Seelen
und selbstsüchtig war. Wie lange würden wir warten, bis wir sicher sein konnten, dass keine Gefahr mehr drohte?
»Wie es hier wohl ist, wenn es kalt wird? Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie sich Kälte anfühlt. Und wenn es regnet? Gelegentlich muss es schließlich sogar hier regnen, oder? Mit den vielen Löchern in der Decke muss es ganz schön nass werden. Wo schlafen wir dann wohl alle?« Ich seufzte.
»Vielleicht erlebe ich das ja noch. Allerdings sollte ich wahrscheinlich nicht damit rechnen. Bist du gar nicht neugierig? Wenn du aufwachen würdest, könntest du es herausfinden. Ich bin sehr wohl neugierig. Vielleicht frage ich Ian danach. Es ist komisch, sich vorzustellen, wie sich die Dinge hier verändern werden … Der Sommer kann ja nicht ewig dauern.«
Einen kurzen Augenblick lang zuckten ihre Finger in meiner Hand.
Das traf mich unvorbereitet; meine Gedanken waren von der Frau auf dem Feldbett abgeschweift und ich war schon wieder dabei, melancholisch zu werden, was im Moment ständig passierte.
Ich sah auf sie herunter; es war keine Veränderung zu erkennen - die Hand, die ich hielt, war schlaf, ihr Gesicht immer noch ausdruckslos. Vielleicht hatte ich mir die Bewegung nur eingebildet.
»Habe ich irgendetwas gesagt, das dich interessiert? Worüber habe ich denn geredet?« Ich überlegte schnell, während ich ihr Gesicht betrachtete. »War es der Regen? Oder der Gedanke an Veränderung? Veränderung? Davon hast du eine Menge vor dir, nicht wahr? Dafür musst du allerdings erst aufwachen.«
Ihr Gesichtsausdruck blieb leer, ihre Hand regungslos.
»Veränderung interessiert dich also nicht. Ich kann es dir nicht verdenken. Ich will auch nicht, dass sich irgendetwas verändert. Geht es dir wie mir? Wünschst du dir auch, der Sommer würde noch länger dauern?«
Wenn ich ihr Gesicht nicht so genau beobachtet hätte, wäre mir das winzige Flattern ihrer Augenlider entgangen.
»Du magst den Sommer, stimmt´s?«, fragte ich hoffnungsvoll.
Ihre Lippen zuckten.
»Sommer? Summer?«
Ihre Hände zitterten.
»Heißt du so, Summer? Summer? Das ist ein schöner Name.«
Ihre Hand ballte sich zur Faust und ihre Lippen öffneten sich.
»Komm zurück, Summer. Ich weiß, dass du das kannst. Summer? Hör mir zu, Summer. Mach die Augen auf, Summer.«
Ihre Augen blinzelten einmal kurz.
»Doc«, rief ich über die Schulter. »Doc, wach auf.«
»Hm?«
»Ich glaube, sie kommt zu sich!« Ich wandte mich wieder der Frau zu. »Weiter so, Summer. Du schaffst es. Ich weiß, dass es schwierig ist. Summer, Summer, Summer. Mach die Augen auf.«
Sie verzog das Gesicht. Hatte sie Schmerzen?
»Bring das Schmerzlos her, Doc. Schnell.«
Die Frau drückte meine Hand und schlug die Augen auf. Sie fokussierten zunächst nichts, sondern huschten nur durch die helle Höhle. Was für ein seltsamer, unerwarteter Anblick musste dieser Ort für sie sein.
»Es ist alles in Ordnung, Summer. Alles wird gut. Kannst du mich hören, Summer?«
Ihr Blick wanderte zu meinem Gesicht, ihre Pupillen stellten sich scharf. Sie sah mich an und nahm meinen Anblick in sich auf. Dann zuckte sie vor mir zurück und wand sich auf dem Feldbett, um mir zu entkommen. Ein leiser, heiserer Angstschrei entfuhr ihren Lippen.
»Nein! Nein, nein …«, rief sie. »Nicht noch einmal.«
»Doc!«
Er war schon da, stand auf der anderen Seite des Feldbetts wie vorhin bei der Operation.
»Alles in Ordnung …«, versicherte er ihr. »Niemand wird Ihnen hier etwas tun.«
Die Frau hatte die Augen zugekniffen und drückte sich flach auf die dünne Matratze.
»Ich glaube, sie heißt Summer.«
Er warf mir einen Blick zu und verzog das Gesicht. »Deine Augen, Wanda …«, hauchte er.
Ich blinzelte und bemerkte, dass mir die Sonne ins Gesicht schien. »Oh…« Ich ließ die Hand der Frau los.
»Bitte nicht …«, jammerte die Frau. »Nicht schon wieder …«
»Schsch …«, murmelte Doc. »Summer? Man nennt mich Doc. Niemand wird Ihnen etwas tun. Alles wird gut.«
Ich trat von Ihnen weg, zurück in den Schatten.
»Nennen sie mich nicht so!«, schluchzte die Frau. »So heiße ich nicht! Das ist ihr Name, ihrer! Sagen sie ihn nicht noch mal!«
Ich hatte den falschen Namen erwischt.
Mel widersprach den Schuldgefühlen, die mich durchströmten. Du kannst nichts dafür. Summer ist auch ein Menschenname.
»Natürlich nicht«, versprach Doc. »Wie heißen Sie denn?«
»Ich … ich … ich weiß es nicht!«, jammerte sie. »Was ist passiert? Wer war
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