Seelenangst
Wohnzimmer.
Clara knipste das Licht ein. Falls dort jemand im Dunkeln lauerte, würde das Licht ihn einen Moment lang blenden. Und dann würde sie ihm notfalls ohne Zögern eine neue Schnellstraße durchs Hirn ziehen.
Aber da war niemand.
Dafür sah sie etwas anderes.
Die Schränke waren umgeworfen, die Bücher aus den Regalen gerissen, die Wände mit braunroter Farbe beschmiert. Oder war es Blut? Wahrscheinlich.
Wir kriegen dich , stand da. Wenn du leben willst, hör auf.
Und in der Mitte des Wohnzimmers sah sie das grässliche Etwas, das den Gestank verursachte und um das die Fliegenschwärme kreisten, die hektisch summend zur Deckenlampe stoben, kaum dass das Licht aufflammte.
Es waren die vier abgeschnittenen Beine einer Kuh, die auf den Parkettboden des Wohnzimmers gelegt worden waren und vier der fünf Seiten eines Pentagramms bildeten. Die fünfte Seite war mit inzwischen eingetrocknetem, braunem Blut gezogen.
Ein umgedrehtes Pentagramm. Und über diesem Pentagramm, in Richtung Balkontür, lag der Kopf der Kuh, aus deren glasigen Augen Maden krochen. Der Kopf war halb verwest, mit lang herausgestreckter, grünlich verfärbter Zunge. Das Fleisch unter dem Fell glänzte vor Fäulnis, während die Fliegen wie schwarzer Nebel über dem Kadaver wogten.
*
Clara wich taumelnd aus dem Zimmer zurück, in dem sie viele schöne Stunden verlebt hatte und das jetzt durch diese Installation des Grauens entweiht worden war. Sie stolperte in die Küche und atmete erst einmal durch. Hier schien alles unverändert.
Ihr Handy piepte. Eine SMS von Winterfeld. Sie waren unterwegs. Würden gleich da sein.
Wenigstens das, dachte Clara.
Sie setzte sich an den Küchentisch. Es interessierte sie nicht, ob sie dabei irgendwelche Spuren verwischte. Wenn sie sich nicht sofort setzte, würde sie an Ort und Stelle umkippen. Winterfeld hatte recht gehabt. Sie sah so aus, wie er sich fühlte.
Sehnsüchtig schaute sie auf die Whiskyflasche. Was würde sie jetzt für einen kräftigen Schluck geben … Aber vielleicht war der Inhalt vergiftet. Nein, das konnte sie nicht riskieren.
Sie saß eine Zeit lang wie benommen am Küchentisch und starrte auf das Handy, auf dem vorhin die SMS von Winterfeld aufgetaucht war. Dann blickte sie zum Fenster …
… und sah das Gesicht.
Ein bleiches Gesicht, das sie inmitten schwarzer Kleidung vor dem Hintergrund der düsteren Nacht mit einem grässlichen Grinsen anbleckte.
O Gott!, durchzuckte es sie. Wie kommt dieser …
Sie öffnete die Augen und fuhr heftig zusammen. Es war dieser Moment, wo sich im leichten Schlaf die Muskeln entspannen, sodass man kurz zusammenzuckt und dadurch aufwacht. Sie saß noch immer in der Küche. Nichts hatte sich verändert. Es war nur ein böser Traum gewesen, wie so oft. Mit einem Anflug von Erleichterung blickte sie auf die Uhr. Es waren vier Minuten vergangen. Sie war kurz eingenickt.
Sie blickte zum Fenster.
Kein Gesicht.
Erleichterung überkam sie. Du hast bloß geträumt, dass da jemand war. Obwohl … möglich wäre es gewesen, sie wohnte im ersten Stock.
Noch ein Blick zum Fenster.
Wieder kein Gesicht.
Clara atmete tief durch und horchte auf das Geräusch von Motoren, die das Kommen Winterfelds ankündigen würden.
Nichts.
Noch ein letzter Blick zum Fenster.
Ihr stockte das Herz.
Das Gesicht war wieder da.
Und diesmal war es real.
Der Mann streckte ihr lüstern die Zunge heraus. Dann machte er mit einer Hand eine unmissverständliche Geste, indem er mit dem Handrücken über seine Kehle fuhr. Dann zeigte er mit einem dürren Finger auf Clara.
Clara zog die Waffe.
Stürzte zum Fenster.
Der Mann ließ los.
Sie hörte, wie er unten auf dem Boden aufprallte. Sah seinen Schatten, wie er sich durch die Büsche des Hinterhofs schlug. An einer Straßenlaterne blieb er stehen und beobachtete sie.
Sollte sie schießen?
Nein, sie konnte nicht wild durch die Nacht ballern und auf einen Mann feuern, der ihr erst einmal gar nichts getan hatte.
Dann sah sie, wie der Mann etwas aus der Tasche holte, darauf tippte und den Gegenstand ans Ohr legte. Ein Handy.
Clara beobachtete ihn mit angehaltenem Atem. Sie hörte nur das laute Pochen ihres Herzens und das Summen der Fliegen im Wohnzimmer.
Und zuckte heftig zusammen, als ihr Handy klingelte.
Es war nicht Winterfeld. Es war eine unbekannte Nummer.
»Ja?«
»Frau Vidalis«, sagte die Stimme. »Ist Ihnen der Selbsterhaltungstrieb abhandengekommen? Wollen Sie dem Wort ›dumm‹ eine völlig neue
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