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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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mit einer Nagelpistole hingerichtet hatte; sie sah Mandy, die sich die Zunge abgebissen hatte und daran verblutet war; sie sah Hendrik, der vom Zug zermalmt worden war, und sie sah den seltsamen, schwarz gekleideten Mann, der sie angerufen und sich vor ihrer Wohnung in den Mund geschossen hatte. Sie sah ihn noch immer im Schein der Straßenlaterne auf dem Rücken liegen, die Waffe umklammert, den Lauf am Mund, hinter seinem Kopf ein Kranz aus Blut und Knochensplittern.
    Und schließlich sah sie den Drachen selbst, dem sie das Messer bis zum Anschlag in die Halsschlagader gebohrt hatte. Sie sah noch einmal seinen Mund, in Schock und Erstaunen und Schock aufgerissen, nach Luft schnappend wie ein Fisch, den man bei lebendigem Leibe durchschneidet.
    Zuletzt sah sie noch einmal Don Alvaro, tot in einem schwarzen Plastiksack. Er hatte den Drachen für seine Zwecke eingespannt, hatte es irgendwie geschafft, ihn für seine Mission zu gewinnen. All die Informationen, die sich auf den Sticks befanden, all das verbotene Wissen über schreckliche Dinge, die bestimmte Menschen getan hatten und noch taten. Dinge, von denen niemand wissen durfte.
    Aber wie wahrscheinlich war es, dass ein satanischer Kult all diese Informationen besaß?
    Nein, das war völlig ausgeschlossen.
    Der Vatikan hatte diplomatische Beziehungen zu mehr Staaten als Deutschland.
    Es war viel wahrscheinlicher, dass ein Mann wie Alvaro, hoher Würdenträger des Heiligen Stuhls, an diese Details herankommen konnte.
    Clara dachte an den schwarzen Plastiksack, den sie eben noch gesehen hatte. Wieder sah sie das alte, gutmütige Gesicht Don Alvaros vor sich, hinter dessen Fassade sich eine teuflische Intelligenz und ein grandios böser Plan verborgen hatten.
    Clara dachte daran, dass Alvaros Spruch ihr das Leben gerettet hatte. Gottes Kraft ist in der Schwachheit stark. Damit hatte sie den Drachen besiegt. Doch der Drache war von Don Alvaro geschickt worden. So hatte er sie vor einer Gefahr bewahrt, die er selbst geschaffen hatte. Doch genau durch diese Gefahr war er aufgeflogen. Und jetzt war er tot. Verbrannt.
    »Signora Vidalis …« Es war Don Tomasso, der noch immer neben ihnen stand, während MacDeath nachdenklich zum Nachmittagshimmel und auf die Rauchwolken blickte. »Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise zu Diensten sein kann, lassen Sie es mich bitte wissen.« Er reichte ihr eine Karte. »Aber mein Schmerz und meine Trauer«, wieder liefen ihm Tränen über die Wangen, »sind unermesslich. Was er getan hat … Ich kann es nicht glauben. Don Alvaro war mehr als mein Lehrmeister, müssen Sie wissen. Er war der Vater, den ich nie gehabt habe. Ich kann nicht fassen, was geschehen ist …« Er schniefte wieder in sein Taschentuch. »Ich werde im Gespräch mit Gott Trost suchen. Wenn Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich erreichen.«
    Clara nickte und nahm die Karte entgegen. Sie schüttelten sich die Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte Clara. »Und ich wünsche Ihnen Kraft. Ich weiß, wie es ist, einen lieben Menschen zu verlieren.« Wobei sie nicht sicher war, ob lieb hier das richtige Wort war.
    Hier war Italien. Und damit nicht ihr Zuständigkeitsbereich. Die Kollegen von der Questura würden die Verhöre führen. Wenn sie Glück hatte, bekam sie die Protokolle. Aber was würde das ändern? Der Fall war gelöst, doch glücklicher machte sie das nicht.
    Sie sah Don Tomasso nach, wie er mit unsicheren Schritten über die große Brücke in Richtung Petersdom davonging – eine einsame, verlorene Gestalt.

12
    Clara schaute aus dem Fenster der Trattoria und sah die Silhouette von MacDeath, der das Handy am Ohr hatte. Er stand dort im Gewühl der Menschen, die sich rechts und links an ihm vorbeidrängten wie am Obelisken auf dem Petersplatz. Doch hier drinnen konnte man nicht telefonieren, dafür war das Stimmengewirr viel zu laut.
    Schließlich kam MacDeath zu Clara zurück und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Nichts«, sagte er. »Es wurden keine weiteren USB-Sticks gefunden. Aber ich habe denen gesagt, sie sollen weitersuchen, weil es nicht unwahrscheinlich ist, dass es irgendwo noch welche gibt. Und der Himmel weiß, wie viele.«
    Er klappte das Handy zusammen.
    »Wissen Sie noch, was ich zu Marquard in der Anstalt gesagt habe? Das Hamlet-Zitat?«
    Clara lächelte, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. »Auch wenn es Wahnsinn ist, so hat es doch Methode.«
    MacDeath steckte das Handy in die Sakkotasche. »Genau. Wenn dieser Spruch auf einen Menschen

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