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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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Ewigkeit des Alls umherirrten, suchend nach Erlösung oder einem Zeitpunkt des Endgültigen, den es nicht gab. Dort drüben, in der Welt der Toten.
    Die Welt der Toten.
    Clara fiel der Umschlag von Freese ein. Sie zog ihn hervor, öffnete ihn. Erst hatte sie das Schreiben nur aus Höflichkeit entgegengenommen, nun aber stellte sie fest, dass es Worte waren, die sie vor langer Zeit schon einmal gelesen hatte und beinahe auswendig kannte, denn sie waren schön und traurig zugleich. Sie hatten mit Menschen zu tun, die in Claras Leben leider viel zu oft vorkamen, die sie nicht schlafen ließen und mit blutigen Augen durch ihre Träume geisterten.
    Ad plures ire – zu den vielen gehen. Und die vielen, das waren die Toten.
    Woher hatte Freese das gewusst? Sie würde ihn fragen müssen.
    Denn »Die Toten« war auch der Titel der Geschichte von James Joyce, von der Freese ihr gestern einen Ausschnitt gegeben hatte, den sie jetzt in der Hand hielt. Es war der letzte Teil der Geschichte, wo sich Gabriel, die Hauptfigur, neben seiner Frau ins Bett legt und ahnt, dass es noch eine andere Welt gibt.
    Eine Welt der schweigenden, grauen, riesigen Heere. Eine Welt der Toten.
    Seine Seele hatte jene Region erreicht, wo die riesigen Heere der Toten waren. Noch war er bei Bewusstsein, jenseits der Mauer des Schlafes, doch schon sah er die schemenhaften Schatten jener, die einmal so gewesen waren wie er. Dann verblasste seine Sicht, und er betrat eine graue, nicht fühlbare Welt. Und die wirkliche Welt, die Welt aus Materie und Fleisch und Blut, in der diese Toten einst gelebt hatten, löste sich immer mehr auf.
    In dieser Geschichte hatte Gabriel von seiner Frau Gretta gehört, sie habe vor vielen Jahren einen Jungen geliebt, von dem sie ihm nie erzählt hatte. Und dass dieser Junge nicht mehr lebte. Weil er nachts im strömenden, eiskalten Regen vor ihrem Fenster gewartet hatte, und dann an einer Lungenentzündung gestorben war. Besser in flammender Leidenschaft aus dieser Welt treten, als allmählich dahinzuwelken, hatte der Junge – er hieß Michael Furey – zu Gretta gesagt.
    Vielleicht hatte er recht , dachte Clara. Bei all dem Schrecken und der Trauer, die die Welt bereithielt, war es vielleicht das Beste, früher abzutreten, in einem Zustand der Schönheit, Freude und Vollkommenheit, als allmählich zu verfallen und schon als Lebender zu dem Staub zu werden, zu dem erst die Toten zerfielen.
    Draußen stoben die Schneeflocken durch den eisgrauen Winterhimmel, während der Wind an den Fenstern vorüberfauchte, begleitet vom an- und abschwellenden Brummen der Propellermotoren. Und als Clara an all die Toten dachte, die durch die Sphären irrten wie die wirbelnden Schneeflocken draußen vor den Fenstern, fühlte sie sich wie Gabriel in Joyce’s Geschichte, als sie mit letzter Aufmerksamkeit und Tränen in den Augen die restlichen Zeilen las, während sie in einen sanften Schlaf sank, der sie das Grauen, den Schrecken und die dunkle Seite des Todes allmählich vergessen ließ.
    Sein Blick ging zum Fenster, stand dort . Es hatte wieder zu schneien angefangen. Er schaute schläfrig auf die Schneeflocken, silbern und dunkel, die langsam am Lampenlicht vorüberschwebten. Für ihn war die Zeit gekommen, nach Westen zu gehen. Ja, die Zeitungen hatten recht. Es fiel Schnee über ganz Irland. Schnee fiel auf jeden Teil der dunklen Ebene, auf die baumlosen Hügel und, noch weiter westlich, auf die tosenden Wellen der See. Er fiel auch auf jeden Teil des einsamen Friedhofs, auf dem Michael Furey begraben lag. Der Schnee lag in dicken Schichten auf den steinernen Kreuzen und Grabsteinen, auf den Pfosten des kleinen Tores und auf den Dornenbüschen. Langsam schwand seine Seele, während er den Schnee still durch das All fallen hörte. Und still fiel er, der Herabkunft ihrer letzten Stunde gleich, auf alle Lebenden und To t e n.
    Die Toten, war Claras letzter, schläfriger Gedanke. Sie kommen nicht nur mit blutgefüllten Augen und wollen von mir wissen, warum ich sie nicht gerettet habe. Sie wachen auch über uns, beschützen uns. All jene, die vor uns waren und jeden unserer Schritte beobachten …
    Und dann war Clara eingeschlafen, ihr Geist frei von allen Schrecken, allem Grauen. Das kleine Flugzeug, schaukelnd im Wind, wurde zu einer Wiege, während das monotone Motorengeräusch sich in ein Schlaflied verwandelte, das sie mit tröstenden Worten in die Welt der guten Träume begleitete. Es war, als würde sie noch einmal in den Armen ihrer

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