Seelenangst
passt, dann auf Alvaro de la Torrez.«
Clara hatte in einer Plastikfolie den Brief vor sich liegen, den Don Tomasso ihnen überlassen hatte. Sie würden ihn in Berlin untersuchen lassen, abfotografieren und ihn Tomasso per Kurier zurückschicken. Dann mussten sie gemeinsam mit den italienischen Kollegen herausfinden, wer diesen Brief noch alles erhalten hatte.
»Alvaro de la Torrez ist der wahre Drache«, sagte Clara. »Wie klingt das in Ihren Ohren?«
MacDeath zuckte die Schultern. »Es passt jedenfalls«, erwiderte er. »Offenbar ist ihm das Böse, das er so lange und oft bekämpft hat, irgendwann zu viel geworden, und er hat beschlossen, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen. Dabei hat er das Böse benutzt, um Böses zu töten, und es auf diese Weise noch mehr erniedrigt.« Er winkte dem Kellner. »Wahrscheinlich ging es ihm wie manchem Polizisten, nachdem er zum hundertsten Mal denselben Dealer festgenommen hat und ihn auf richterlichen Beschluss wieder laufen lassen muss.«
Der Kellner kam, und sie bestellten zwei Glas Rotwein.
»Und was die Sticks angeht …«, fuhr MacDeath fort und ließ den Blick durch die urige Trattoria schweifen, an deren Wänden Wappen der Medici-Herrscherhäuser prangten. »Es ist doch sehr viel wahrscheinlicher, dass ein hochrangiger Vertreter des Vatikans Zugriff auf diese dunklen Geheimnisse hat als ein seltsamer Kult-Anführer, der obendrein völlig wahnsinnig ist.«
»Ob es wirklich noch mehr USB-Sticks gibt?«, sagte Clara nachdenklich. »Und falls ja, wo könnten sie sein?« Sie dachte an die zwei Sticks, die sie gesehen hatte und die das dunkle Geheimnis von Menschen trugen, die unter der Oberfläche der Normalität Dinge getan hatten, von denen niemand wissen durfte. Dies hatte sie zu den schlimmsten aller Täter gemacht – und am Ende zu den Opfern, denen das schlimmste Schicksal drohte, den Opfern des Drachen. Oder besser, zu Opfern Don Alvaros. »Für mich sieht es eher so aus«, fuhr Clara fort, »als wäre diese Tötungsmission auf ein ganzes Leben angelegt. Und dazu müssen doch mehr als zwei Opfer gehören.«
»Das stimmt«, pflichtete MacDeath ihr bei. »Aber die Carabinieri haben Alvaros Büro durchsucht und keine Sticks gefunden. Ich habe vorhin mit der Questura telefoniert.«
Der Wein wurde gebracht, und sie stießen an.
»Um meinen geliebten Sigmund Freud zu zitieren«, sagte MacDeath anstelle eines Trinkspruchs: »›Dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.‹« Er hob sein Glas. »Der Drache und sein Strippenzieher existieren nicht mehr, nur das zählt. Wir können den Fall zu den Akten legen.«
Clara hob ebenfalls das Glas und trank einen Schluck. Erst jetzt spürte sie, wie unendlich müde sie war.
Die Toten, die in ihren Träumen erschienen – würde auf ihren Gesichtern weiterhin ein stummer Vorwurf liegen? Oder Dankbarkeit? Erlösung? Clara wusste es nicht. Gut und Böse, Licht und Dunkel, Leben und Tod. Zwischen diesen Extremen bewegte auch sie sich ständig.
Sie hatte gekämpft, und sie hatte gesiegt. Vielleicht tat sie gut daran, sich einfach nur zu freuen, dass alles überstanden war.
Grausam und unerfreulich würde es früh genug wieder werden.
13
Das Flugzeug, eine Propellermaschine, gewann langsam an Höhe. Clara blickte aus dem Fenster, den Kopf voller Gedanken. Es würde noch lange dauern, bis sie Ordnung in dieses Durcheinander gebracht hatte.
Gottes Kraft ist in der Schwachheit stark, hatte Don Alvaro zu ihr gesagt. Und das hatte ihr das Leben gerettet. Sonst hätte der Drache sie umgebracht. So aber hatte sie den Spieß umgedreht, war durch ihre Schwäche stärker geworden, und der Drache war gestorben. Aber hatte Don Alvaro sie wirklich vor dem Drachen bewahrt? Denn Alvaro war der wahre Drache gewesen.
Sie konnte es noch immer nicht glauben.
Aber nun war er tot. Gestorben von eigener Hand.
Der Fall war gelöst.
Es gab vieles, was sie ihn noch hätte fragen wollen. Doch jetzt, wo er nur noch Asche in dem schwarzen Plastiksack war, ähnlich wie sein verbranntes Anwesen, wo sie erst vor kurzer Zeit mit MacDeath und Don Tomasso gesessen hatte, konnte sie ihn nichts mehr fragen.
Wieder schaute Clara aus dem Fenster. In Rom hatte die Sonne geschienen, und die Vorboten des Frühlings hatten verheißungsvoll durch die Eiswand des Winters geblitzt. Doch jetzt, als sie die Schweiz überflogen, schlugen Schneeflocken gegen die Fenster des Flugzeugs, wie verlorene Seelen, die in der
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