Seelenangst
haben wir es hier mit gottgleichen Hybris- und Allmachtsfantasien zu tun, gepaart mit sadistischen Ritualmorden. Zweitens: Der Täter glaubt, sein Tun wäre gottgewollt, und dass nur eine höhere Macht ihn aufhalten könne. Und drittens: Wenn es um die Frage geht, von wem der Täter sich gesteuert oder unterstützt sieht, von Gott oder dem Teufel, ist es sicherlich Letzterer.« Er kniff die Lippen zusammen. »Wenn es so ist, wie ich glaube, ergibt sich daraus, dass der Täter so grausam weitermachen wird wie bisher, oder noch schlimmer. Und er wird nur aufhören, wenn er getötet wird. Je länger er weitermorden kann, desto eher wird ihm sein Tun als gottgewollt vorkommen.«
»Sie sagen immer er «, warf Clara ein. »Könnte es nicht auch eine Frau sein? Serienmörder töten entsprechend ihrer sexuellen Präferenz, und der Mord an Gayo war … nun ja, sehr viel kunstvoller und aufwendiger als der an Wolters, hat dem Täter also möglicherweise viel mehr Lust bereitet.«
»Sehr gut«, sagte MacDeath und nippte an seinem Tee. »Andererseits könnte der Täter homosexuell oder bisexuell sein. Oder die sexuelle Komponente spielt für ihn eine geringere Rolle, weil er sich als ausführendes Organ einer höheren Macht sieht. Dann ist es ziemlich egal, wen er umbringt, solange dies den Mächten gefällt, deren Stimmen er hört.«
»Gottgleiche Hybris«, sagte Clara. Sie blickte auf den ersten Namen auf dem Dokument. MacDeath hatte zu jeder Charaktereigenschaft des Killers einen früheren Serienmörder als Anschauungsobjekt hinzugefügt.
»Peter Kürten«, las sie laut vor. »Der Vampir von Düsseldorf.«
»Einer der Klassiker«, sagte MacDeath, »falls dieser Begriff in einem solchen Zusammenhang passt. Er verging sich in den späten Zwanzigerjahren in Düsseldorf hauptsächlich an Schülerinnen, die er mit einem Messer quälte, vergewaltigte und tötete, wobei er ihnen teilweise das Blut aussaugte. Andere Opfer, sowohl Männer als auch Frauen, erschlug er wahllos und ließ sie in Waldstücken liegen.« Er lehnte sich zurück. »Was die Frauen angeht, hat Kürten sich an seinem Vater ein Beispiel genommen, der seine Frau und seine Töchter, also Kürtens Schwestern, vergewaltigt und erniedrigt hatte. Irgendwann hielt Kürten das für völlig normal und machte mit seinen Schwestern das Gleiche.«
»Was sagte der Vater dazu?«
»Dem war es wahrscheinlich egal.« MacDeath trank mit zusammengekniffenen Lippen einen Schluck Earl Grey. »Kürten folgte dem typischen Weg eines Serienkillers, von der sexuellen Belästigung anderer, inklusive Vergewaltigung, über das Quälen und Töten von Tieren bis hin zur rituellen Verstümmelung und Ermordung von Menschen.«
»Und sein Motiv?«, fragte Clara. »War das nicht eine diffuse Form von Rache?«
»Exakt«, sagte MacDeath. »Diffus trifft es. Im Prozess in den Jahren 1930 und 1931, bevor er am zweiten Juli 1931 hingerichtet wurde, sagte Kürten, er wolle Rache an der gesamten Menschheit nehmen. Er wolle am liebsten«, MacDeath schob seine Brille zurecht, »alle Menschen vernichten. Aus psychologischer Sicht haben wir es hier mit einer klassischen Aggressionsverschiebung von der Rache an der Welt zur Rache an Individuen zu tun.«
Er blätterte um und fuhr fort: »Gleichzeitig brauchte er die Morde, die Messerstiche, um sich sexuell zu stimulieren. Bis er zum Orgasmus kam, dauerte es unterschiedliche lange. So wie manche Menschen sich anhand von Pornos erregen und abhängig von dem, was sie dort sehen, schneller oder langsamer zum Höhepunkt kommen, war für Kürten die Anzahl der Messerstiche entscheidend, die er seinen Opfern beibrachte.«
»Haben die Opfer dabei noch gelebt?«
MacDeath zuckte die Schultern. »Die Rechtsmedizin ist zu oft in Berlin umgezogen, als dass es noch detaillierte Protokolle aus dieser Zeit gäbe, aber die Antwort ist wohl ja und nein . Einige waren noch am Leben, als er zum Höhepunkt kam. Bei anderen hat er die Vergewaltigung vermutlich begonnen, als sie noch lebten, und kam dann in der Leiche zum Orgasmus.«
Clara merkte, wie sie sich schüttelte.
»Der Orgasmus dieser Täter«, dozierte MacDeath weiter, »ist für sie eines der wenigen Erlebnisse von Freiheit in einer Welt, in der ihr krankhafter Zwang sie immer wieder dazu treibt, Dinge zu tun, die ein Teil von ihnen vielleicht gar nicht will.« Er führte wieder seine Tasse zum Mund und trank mit spitzen Lippen. »Der Orgasmus zum einen ist die Freiheit. Die Herrschaft über Leben und Tod
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