Seelenangst
Wolters hatte man mit einer Spitzhacke im Bett erschlagen. Der erste Mord war offenbar sorgfältig und langfristig geplant, der zweite erinnerte sie eher an die Tat eines wenig umsichtigen, dafür umso brutaleren Täters. Gab es vielleicht gar keinen Zusammenhang zwischen den beiden Morden? Andererseits musste Gayos Killer ein Interesse daran gehabt haben, dass die Sekretärin nicht ins Büro kam und sein Ritual störte. Möglicherweise hatte er es darauf angelegt, dass es den Anschein erweckte, die Morde hätten nichts miteinander zu tun.
Clara klickte durch ihr Outlook. Heute hatte sie ein volles Programm. Gleich würde sie mit MacDeath weiter über das Täterprofil sprechen. Anschließend wollte sie sich den kleinen Lukas anschauen, der den USB-Stick von dem Unbekannten erhalten hatte. Für den Nachmittag hatte Bellmann eine Konferenz mit Winterfeld, MacDeath und Clara einberufen, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Hermann war unterdessen dabei, weiter den seltsamen USB-Stick zu sichten.
Zu viele lose Enden überall. Der Mord an Gayo, der Mord an Wolters, der rätselhafte USB-Stick. Und die Frau, die sich um Lukas kümmerte, Schwester Viktoria, hatte auch nichts Neues erzählen können. Wie denn auch? Sie hatte den unheimlichen Überbringer des USB-Sticks und des Zettels ja nicht einmal gesehen.
Clara dachte an den Zettel, der zusammen mit dem Stick in dem Umschlag gewesen war. Und alle Vögel wurden satt von ihrem Fleisch, hatte in aufgeklebten Schreibschrift-Buchstaben darauf gestanden. Ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes. Sie würde nachher genau nachschauen, denn der Spruch erinnerte sie irgendwie an die Worte an der Wand von Gayos Büro, die tatsächlich mit seinem Blut geschrieben worden waren, wie die Spurensicherung inzwischen herausgefunden hatte. Sie beschloss jedoch, das Ganze bis nach der Konferenz zu verschieben. Was Bellmann jetzt interessierte, war der Mord an Gayo und nicht irgendwelche Nebenschauplätze.
MacDeath selbst war dabei, eine Übersicht früherer Ritualmorde und damit ein mögliches Täterprofil zu erstellen, das Clara gleich mit ihm durchgehen wollte. Die Ergebnisse sollten in die Präsentation für Bellmann einfließen. Idealerweise waren dann auch schon die Fingerabdrücke und DNA-Spuren vom Tatort identifiziert, und man konnte der Presse vielleicht schon erste Erfolge melden.
*
Als Clara das Büro von MacDeath betrat, roch es nach Earl Grey – selbst aufgebrüht, denn MacDeath liebte Tee, verabscheute zugleich aber nichts mehr als die Teebeutel, die es unten in der Kaffeeküche gab. Ganz zu schweigen von dem Kaffee, den die röchelnde und rumpelnde Kaffeemaschine unten im dritten Stock produzierte. Das Gebräu erinnere ihn, hatte er einmal gesagt, an die Körpersekrete, die bei Obduktionen immer als Erstes weggekippt werden.
Clara fiel einmal mehr der echte Totenschädel ins Auge, der auf einem riesigen Bücherschrank stand und den MacDeath, wie er sagte, »mal irgendwo aus Russland geschenkt bekommen hatte«. Eines der wenigen Bilder im Büro zeigte das Jüngste Gericht von Michelangelo aus der Sixtinischen Kapelle, von dem Clara noch immer nicht genau wusste, warum es hier hing.
Als MacDeath sie sah, nickte er ihr freundlich zu, unterdrückte ein Gähnen und zeigte auf einen der Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.
»Verzeihen Sie das Gähnen, hat nichts mit Ihnen zu tun, aber gestern ist es spät geworden, und heute wird es wohl nicht anders sein. Das Böse schläft nie. Wir aber auch nicht viel mehr.«
Clara lächelte und setzte sich, während sie kurz den Totenkopf neben der Arzttasche fixierte.
MacDeath lächelte ebenfalls. »Sie sind einem Earl Grey nicht abgeneigt, stimmt’s?«, fragte er, ohne eine Antwort abzuwarten. »Zucker habe ich hier. Die Zitronen sind mir leider ausgegangen. Geht aber auch so, oder?«
Clara nickte.
Der Drucker im Büro summte und spuckte Papiere aus, die MacDeath zusammenschob und ihr, zusammen mit der Tasse Earl Grey, über den Tisch schob.
»Wunderbar«, sagte er und ging zum Hauptthema über. »Wie Sie sehen, habe ich mir die berühmtesten und schockierendsten Ritualmorde der letzten Jahrzehnte angesehen und dabei überlegt, welche Motive unser Killer haben könnte, einen derart bestialischen Mord zu begehen. Daraus ist das derzeitige Täterprofil entstanden, das sich in drei Hauptkomponenten der Persönlichkeit unterteilen lässt.«
MacDeath lehnte sich zurück.
»Also dann«, sagte er. »Erstens
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