Seelenangst
hingegen ist für sie die größtmögliche Form von Kontrolle. Freiheit für sich selbst, Kontrolle über andere. Ein Idealszenario für Serienmörder, und nicht nur für die.« Er schürzte die Lippen. »Denn bei vielen Mördern ist die Kontrolle noch wichtiger. Bei Kürten sieht man es daran, dass er sowohl Frauen als auch Männer getötet hat. Der Augenblick des Todes seines Opfers war für ihn wichtiger als der Augenblick seiner sexuellen Befriedigung. In einer Welt, die diese Menschen hassen, werden sie so zum Beherrscher dieser Welt.« Er sortierte die Blätter, während er sprach. »Viele Täter träumen davon, genau dann zu ejakulieren, wenn ihr Opfer stirbt. Auch Kürten hat davon gesprochen, auch wenn es ihm wohl vom … nun ja, vom Timing her meist nicht gelungen ist.«
»Und was ist mit der Hybris? Dem Wunsch, gottgleich zu sein?«, fragte Clara.
»Da genau liegt das Problem«, sagte MacDeath. »Die Täter steigern sich so sehr in ihre gottgleiche Hybris hinein, dass sie sich irgendwann tatsächlich für unbesiegbar halten. Dann werden sie unvorsichtig. Und dann werden sie meist geschnappt.«
Clara kritzelte ein paar Notizen auf die Ausdrucke, die MacDeath ihr gegeben hatte. »Gut«, sagte sie, »oder auch nicht. Wir haben also die Art von Killern, die ihren Mord als Rache an der Gesellschaft sehen und glauben, sie würden gottgleich werden, wenn sie rücksichtslos ihre Macht über Leben und Tod ausspielen. Das erregt sie. Und das macht sie unvorsichtig.«
MacDeath nickte wieder und zog eine Augenbraue hoch. »Und wer ist hier das große Vorbild?«
»Das Vorbild?« Clara fiel nichts ein. »Welches Vorbild?«
»Der Erste in der Geistesgeschichte, der gottgleich werden wollte?«
»Sie meinen Satan? Luzifer?«
»Die Täter müssen nicht immer Satanisten sein«, sagte MacDeath, »aber sie haben oft Sympathien für diese Geschichte, die Auflehnung gegen das Establishment, die Rache an allen, die dem Establishment folgen, das nachhaltige Überschreiten von Grenzen. Die Auflehnung gegen Gott.« Er faltete die Hände. »Auch Satan möchte am liebsten alle Menschen in den ewigen Tod, in die Hölle schicken. Auch er möchte alle töten , so wie Kürten später.«
24
Amilia la Blanca saß mit ihrer Tochter Lucia auf einer der mittleren Bänke in der Kapelle nahe der Piazza del Popolo in Rom. Ihr Blick schweifte über die Heiligenstatuen an den Wänden und blieb auf einem großen Barockgemälde haften, das den Erzengel Michael zeigte, wie er den Satan und dessen Vasallen in den Abgrund der Hölle schleuderte.
Der Satan , dachte Amilia. Mit ihm schien ihre fünfzehnjährige Tochter Lucia, die unbewegt vor sich hin starrte, irgendwie zu tun zu haben. Vor einem halben Jahr waren die Störungen zum ersten Mal aufgetreten, ganz plötzlich und umso erschreckender. Mittlerweile waren sie so schlimm geworden, dass Amilia für ihre Tochter keine andere Erklärung mehr sah als die, die sie noch vor sieben Monaten als mittelalterliche Fantasterei abgetan hätte.
Besessenheit.
Es war ein Wort, das für Amilia aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt kam – einer Welt, in der Furcht und Schrecken regierten, der Aberglaube und das Übernatürliche. Eine Welt, die mit der modernen Gegenwart und ihrer Rationalität, Aufgeklärtheit und Logik nur wenig zu tun hatte.
Zuerst war Amilia mit dem Mädchen bei einem Psychiater gewesen. Der hatte eine »Bewusstseinsstörung aus dem schizoiden Formenkreis« vermutet, wie er sich ausgedrückt hatte, Angstzustände, gespaltene Persönlichkeit und Schübe schwerer Depression, die von unvorhersehbaren Wutanfällen abgelöst wurden. Aber das erklärte nicht die seltsamen Phänomene, die aufgetreten waren und die Amilia am meisten erschreckten. Zum Beispiel die Stimme ihrer Tochter, die manchmal nicht mehr wie die Stimme eines Menschen klang. Und die in Sprachen redete, die Amilia nie zuvor gehört hatte. Für sie gab es nur eine Erklärung: Besessenheit.
»Fünfundneunzig Prozent aller geistigen Störungen sind psychischer Natur«, hatte der Psychiater gesagt. »Aber in fünf Prozent aller Fälle …« Er hatte nicht weitergesprochen, weil es nicht nötig gewesen war.
Es hatte mit dem »kleinen Freund« angefangen, von dem Lucia erzählt hatte. Sie hatte sich mit Freundinnen zum Gläserrücken getroffen. Und dann hatten sie die Toten befragt. Und da war offenbar ein freundlicher Geist gewesen, der ihr interessante Dinge erzählt hatte. Zum Beispiel, wo auf dem Dachboden das
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