Seelenangst
die Mutter Lucias, würde oben warten. Tomasso wusste, dass Don Alvaro es nicht duldete, wenn Angehörige bei Austreibungen dabei waren. Oft griffen sie dabei ein, störten den Ablauf oder wurden traumatisiert, wenn sie die Höllenqualen miterlebten und hörten, wie ihre Söhne und Töchter Obszönitäten und Blasphemien von sich gaben, die sie so niemals zuvor aus ihren Mündern vernommen hatten.
Solche Phänomene waren vor allem bei den Töchtern zu beobachten, denn die meisten Opfer von Besessenheit waren Frauen. Lag es daran, dass die Sünde mit Eva begonnen hatte, die vom Baum der Erkenntnis aß, was zur Vertreibung aus dem Paradies führte? Lag es daran, dass die Schuld der Menschheit auf den Schultern einer Frau ruhte? Oder lag es an Maria, der Mutter Christi, die in der Offenbarung der Schlange den Kopf zertrat und die, tugendhaft und rein, von Jesus zur Königin des Himmels gekrönt wurde? Die so rein und frei von Sünde war, dass sie jedem Gefolgsmann des Satans als eine der größten Störkräfte im Kosmos des Bösen erscheinen musste?
Vielleicht lag es daran, dass Frauen angeblich von Natur aus neugieriger waren als Männer. Außerdem fielen Frauen bekanntermaßen – jedenfalls nach Tomassos Ansicht, obwohl er kaum Erfahrung mit dem anderen Geschlecht besaß – gerne auf falsche Freunde herein.
Und der Satan war der falscheste aller falschen Freunde.
Niemand wusste das besser als Tomasso, der in einem Jesuitenkloster zum Priester geweiht worden war und dem seine Lehrmeister nicht nur die Geheimnisse der Schöpfung und der Heiligen Schriften, sondern auch die Tricks und Schliche der Menschen, die Täuschungen des Bösen und die Taktiken des Satans beigebracht hatten. »Du musst das Böse kennen, als wärst du selbst böse«, hatte sein Lehrmeister gesagt. »Nur dann kannst du es bekämpfen.«
Nun beobachtete Tomasso, wie die zwei Diakone Lucia auf den Stuhl drückten und sich hinter sie stellten, um jederzeit eingreifen zu können, sollte sie während der Austreibung handgreiflich werden. Manchmal musste man die Besessenen fesseln, aber zu dieser Maßnahme griff Alvaro nur im Notfall.
Der Exorzist trug den schwarzen Chorrock der Priester des Heiligen Stuhls und hatte sich die violette Stola um den Hals gelegt, während er sich bekreuzigte, ein Gebet murmelte und seine Tasche öffnete, in der sich seine Utensilien befanden: Eine Flasche mit Weihwasser, ein Rosenkranz, ein großes, schweres Metallkreuz und eine Ausgabe des Rituale Romanum , dazu zwei kleinere Büchlein, die er an Tomasso und die Diakone verteilte und aus denen sie während der Austreibung Gebete vorlesen sollten.
Don Alvaro blieb vor Lucia stehen.
»Ich bin Vater Alvaro«, sagte er. »Ich möchte dir helfen. Wer bist du?« Es war wichtig, vor dem Exorzismus etwas über den Menschen zu erfahren. Den Menschen, wohlgemerkt, denn wenn die Austreibung erst im Gange war, sprach nicht mehr der Mensch, dann sprach der Teufel durch dessen Mund. Alvaro hatte es mehr als einmal erlebt.
Lucia schaute ihn an. Anfangs war ihr Blick seltsam abwesend, wurde aber schärfer, als ihre Augen sich allmählich auf den Priester fokussierten. »Ich bin Lucia«, murmelte sie schließlich. »Meine Mutter sagt, dass ich krank bin.«
»Stimmt das?«, fragte Alvaro. »Hat deine Mutter recht?«
Lucia schaute in die Tiefen des Kellergewölbes. »Kann sein. Manchmal erinnere ich mich nicht daran. Vielleicht tue ich Dinge, die ich nicht tun sollte. Aber wenn er nicht da ist, fühle ich mich normal. Und ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, wenn er da war.«
»Wer ist er? «, fragte Alvaro.
»Er zeigt mir viele Dinge«, sagte Lucia. »Wenn ich die Augen zumache, sehe ich wunderschöne Farben. Ich habe ihn ›das Farbenmännchen‹ genannt. Aber dann hat er mir seinen wirklichen Namen gesagt.«
»Und wie ist sein Name?«, fragte der Priester.
»Luigi.«
Tomasso warf einen raschen Blick auf Don Alvaro. Er wusste, dass dies nicht der wirkliche Name des Dämons war. Es gab ein Triumvirat, gebildet von drei Erzdämonen, die häufiger als alle anderen in Menschen fuhren. Tomasso hatte ihre Namen schon oft gehört, hatte sogar mit ihnen gesprochen. Aber längst nicht so oft wie Alvaro, der in seinem Leben mehr als 20 000 Exorzismen vorgenommen hatte.
Das höllische Triumvirat.
Satan. Luzifer. Asmodeus.
Und Asmodeus war der Gegner, auf den sie am häufigsten trafen.
Alvaro schlug das Rituale auf und bekreuzigte sich noch einmal. Bisher hatte der Teufel
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