Seelenangst
»Und wenn Sie an die Kinder denken? Die vielen Kinder, die keine Chance auf eine bessere Zukunft haben? Um die wir uns gekümmert haben und niemand sonst? Was empfinden Sie da?«
Clara hatte mit dieser Talkshow-tauglichen Mitleidsnummer noch nie etwas anfangen können. Und ihr Beruf hatte daran nicht viel geändert.
»Hier beim LKA bekommt nur der Spiegel unsere Gefühle zu sehen«, sagte sie. »Und ich meine den Spiegel im Badezimmer.«
»Bewundernswert«, sagte Krüger. »Haben Sie denn eine Ahnung, wie es in Haiti aussieht? In Port-au-Prince? In den Slums? Dagegen sind eure Problembezirke hier in etwa so problematisch wie die Friedrichstraße.«
»Das ist ein guter Punkt«, sagte Clara. »Denn die Friedrichstraße ist Freitagnacht ja auch zum Problemkiez geworden. Jedenfalls für Franco Gayo.«
Krüger wand sich. Offenbar hatte er erkannt, dass er etwas Dummes gesagt hatte.
»Haben Sie Gayo am Freitag gesehen?«, fragte Clara.
»Nein.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein.«
»Das ist seltsam.«
»Wieso?«
»Auf seinem Telefon war Ihre Nummer gespeichert, Freitag, 18.45 Uhr. Die Nummer, mit der wir überhaupt erst herausgefunden haben, wer Sie sind.«
Krüger nippte vom Kaffee im Pappbecher.
»Kann schon sein. Ich habe sehr viel um die Ohren. Ja, es ist möglich, dass Franco und ich miteinander gesprochen haben.«
»Worüber?«
»Worüber?« Er schaute zur Decke. »Über Francos nächste Auftritte.«
»Das Marketing für die gute Sache?«, fragte Hermann.
Krüger sah ihn an. »Ja. Ist was dagegen einzuwenden?«
»Hatte Gayo Feinde?«, wollte Clara wissen.
»Feinde.« Krüger bewegte das BlackBerry von einer Hand in die andere. »Nun, es gibt immer Neider, denen irgendetwas nicht passt. Aber deswegen jemanden umbringen? Nein, das kann ich mir unmöglich vorstellen.«
»Was ist mit Susanne Wolters?«
Krügers Augen wurden schmal. »Woher kennen Sie die Frau?«
»Wir haben im Telefonbuch unter ›W‹ nachgeschaut«, sagte Hermann. »Also, was ist mit ihr?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Offenbar war sie am Freitag nicht im Büro.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil sie nicht kommen konnte«, sagte Clara.
Krüger starrte sie an. »Und warum nicht?«
»Weil sie tot ist«, sagte Clara. »Seit Freitag.«
»Und das bedeutet«, ergänzte Hermann, »dass auch Sie möglicherweise in Gefahr sind.«
Krüger steckte das BlackBerry in die Anzugtasche. »Deswegen will ich ja auch …« Er stockte.
»Deswegen wollen Sie unbedingt weg?«, fragte Clara. »Nach London oder wohin auch immer?«
Krüger blickte sie mürrisch an, mit zusammengekniffenem Mund. Dann nickte er. »Wir leben in einem freien Land. Sie können mich schwerlich daran hindern.«
»Doch«, sagte Clara. »Können wir. Müssen wir sogar.«
»Was?« Krüger machte Anstalten, aufzustehen. »Was soll das bedeuten?«
»Dass Sie ab heute Abend Polizeischutz haben. So lange können Sie gerne hierbleiben. Hier ist es sicher.«
»Polizeischutz?«, stieß Krüger hervor. »Heute Abend? Hören Sie, ich muss heute noch in den Flieger nach London. Das ist eine Sache, die …«
»Das können Sie vergessen«, unterbrach Hermann ihn. »Sie sind ein wichtiger Zeuge. Sie haben gehört, was mit Franco Gayo passiert ist. Sie stehen ab heute Abend unter Polizeischutz. Sie werden nirgendwo hinfliegen.«
»Das können Sie mir nicht verbieten! Mein Anwalt …«
»Und ob wir können«, sagte Clara. »Und das können wir Ihnen auch gerne mit Unterschrift vom Staatsanwalt geben.«
Krüger sprang auf. »Ich will sofort telefonieren.«
»Bitte«, sagte Hermann. »Ihr Spielgerät haben Sie ja eh dabei.«
Krüger verließ das Zimmer. Clara und Hermann hörten gedämpft seine Stimme aus dem Nebenraum.
»Was meinst du?«, fragte Clara.
»Seltsam«, sagte Hermann, »mir kommt es so vor, als wollte er so schnell wie möglich weg. Und nicht, obwohl Gayo tot ist, sondern weil Gayo tot ist.« Er klappte die Mappe mit den Unterlagen zu. »Ich glaube, er lügt.«
Clara zuckte die Schultern. »In diesem Land hat er leider das Recht dazu. Er hat wohl gemerkt, dass wir geblufft haben. Ohne richterlichen Beschluss haben wir keine Möglichkeit, ihn zu seinem eigenen Schutz festzuhalten. Und den Beschluss zu kriegen dauert seine Zeit.«
23
Gegen Mittag saß Clara wieder in ihrem Büro und schaute in ihr Outlook und ihren Kalender, während die Bilder des Vormittags vor ihrem inneren Auge vorüberzogen. Gayo war von einem Schwert durchbohrt worden, und
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