Seelenangst
sich nicht gezeigt, was des heiligen Ortes wegen nicht ungewöhnlich war. Denn die Teufel versuchten, sich von allem Heiligen fernzuhalten, so gut es nur ging. Und waren sie erst dort, versuchten sie alles, um schnellstens wieder wegzukommen. Deshalb hatten manche Besessene vom Kreuz und dem Weihwasser furchtbare Tobsuchtsanfälle bekommen.
Lucia war bisher ruhig geblieben, was aber nicht unbedingt ein gutes Zeichen war. Mit Dämonen verhielt es sich wie mit Hunden: Die kleinen, harmlosen kläfften am lautesten. Die großen, gefährlichen aber waren still. Doch wenn sie dann zutage traten, waren sie tausendmal schlimmer und gefährlicher.
Aber vielleicht ist Lucia gar nicht besessen , dachte Tomasso. Don Alvaro hatte keinen seiner berühmten »Tests« mit ihr durchgeführt. Manchmal lud er angeblich Besessene zu sich nach Hause zum Essen ein und trug seiner Bediensteten auf, die Pasta mit einem Schuss Weihwasser oder exorziertem Salz zu kochen. Lag eine wirkliche Besessenheit vor, keine psychische Erkrankung, spuckte der Betroffene den ersten Happen wieder aus, begleitet von Röcheln und Keuchen, während er dem alten Priester einen Schwall obszöner Beleidigungen an den Kopf warf.
»In nomine patris, et filii et spiritus sancti« , sagte Alvaro nun, trat einen Schritt auf Lucia zu und machte das Kreuzzeichen auf ihrer Stirn. Einer der Diakone hielt einen Rosenkranz in der einen Hand, während die andere auf der Schulter des Mädchens ruhte.
Der Exorzist kniete nieder, richtete den Blick zur Decke des Kellers und sprach das Vaterunser. Tomasso sah, wie Lucias Füße sich bewegten, als sie auf dem Stuhl hin und her rutschte.
Alvaro stand auf, machte das Kreuzzeichen und hielt dem Mädchen das eiserne Kruzifix an die Stirn. Lucia wich zurück, nur ein wenig zwar, aber es fiel Tomasso sofort auf.
»Deus, in nomine tuo salvum me facet in virtute tua iudica me« , sprach Don Alvaro und ließ das Kreuz weiter auf dem Kopf des Mädchens ruhen. »Hilf mir, Gott, durch deinen Namen, verschaffe mir Recht mit deiner Kraft.«
Lucias Körper wippte vor und zurück, während sich tief in ihrem Kehlkopf ein dumpfes Knurren bildete, leise und lauernd, aber langsam anschwellend.
Schließlich zog Alvaro das Kreuz zurück und legte Lucia die Hand auf die Stirn.
»In nomine Iesu principe: Manifesta!« , sagte er. »Im Namen Jesu, der herrscht: Komme hervor, böser Geist!«
Das war der Augenblick, in dem sich der Dämon zeigen musste, ob er wollte oder nicht.
Alvaro trat einen Schritt zurück, als Lucias Augen erneut nach oben rollten, bis nur noch das Weiße zu sehen war.
In diesem Moment hörte Tomasso das Grollen aus dem Mund der Fünfzehnjährigen.
Es war ein Geräusch, das weder nach einem Menschen noch nach einem Tier klang.
25
Er möchte alle töten. So wie Peter Kürten, der Vampir von Düsseldorf, es später getan hat.
Clara kritzelte ein paar weitere Notizen auf das Blatt, während die zwei Bibelzitate wieder vor ihrem inneren Auge auftauchten.
Mein Name ist Legion.
Alle Vögel wurden satt von ihrem Fleisch .
»Weiß man, ob Kürten irgendwelche Stimmen gehört hat?«, fragte sie. »Oder ob er Botschaften erhalten hat?«
»Nein«, antwortete MacDeath, »obwohl so etwas in einigen Fällen überliefert ist, zum Beispiel vom Serienmörder David Berkowitz aus den USA, dem Son of Sam. Berkowitz hat angeblich vom Hund seines Nachbarn die Befehle erhalten, zu töten.«
Clara blickte angestrengt aus dem Fenster. Noch immer schlugen Regentropfen gegen die Scheibe. Dann richtete sie den Blick wieder auf ihre Unterlagen.
»Zweite Charaktereigenschaft«, sagte sie. »Der Täter glaubt, sein Tun sei gottgewollt, und dass er sozusagen unter dem Schutz einer Gottheit steht. So wie es bei dem nächsten Mann der Fall war, den Sie hier als Beispiel anführen.«
Clara kannte den Namen dieses Killers. Und einige Details hatten ihr schon damals, als sie das erste Mal davon gehört hatte, den Magen umgedreht. Vom Ausdruck blickte ihr das hagere Gesicht eines gut gekleideten Mannes mit Zylinder entgegen.
»Albert Fish, Zwanzigerjahre in den USA.« MacDeath nahm seine Brille ab. »Auf ihn geht das Wort ›Boogeyman‹ zurück.«
Boogeyman, dachte Clara. Das amerikanische Gegenstück zum »Schwarzen Mann«. Wobei es den kriminalhistorisch gar nicht gab, denn die meisten Opfer wurden nicht von einem anonymen Schwarzen Mann ermordet, sondern von Menschen aus ihrem Bekanntenkreis.
MacDeath fuhr fort: »Albert Fish war nach außen
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