Seelenangst
hin ein geachteter und in der Gemeinde geschätzter Gentleman. Doch unter dieser Hülle verbarg sich ein Monster. Genau wie bei unserem Killer war bei Fish der Wille zur Unterwerfung und Verstümmelung des Opfers besonders ausgeprägt, in diesem Fall allerdings verbunden mit Depersonalisierung.«
Clara überflog den Text. Fish hatte einen elfjährigen Jungen entführt, hatte ihn ausgezogen, gefesselt und stundenlang in einer Waldhütte sitzen lassen. Dann war er zurückgekommen, hatte den Jungen ausgepeitscht und ihm bei lebendigem Leib die Ohren und die Nase abgeschnitten. Schließlich hatte er die Mundwinkel seines Opfers mit einem Messer von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt, bis das Gesicht des Jungen das berühmt-berüchtigte »Chelsea Grin« zeigte. Clara musste unweigerlich an den Joker aus der Batman-Verfilmung The Dark Knight denken.
»Sind Sie sicher, dass unser Täter keine Depersonalisierung vornimmt?«, fragte Clara. »Das Schwert, das aus Gayos Mund ragte, war nicht nur entstellend, es könnte möglicherweise auch einen sexuellen Bezug haben.«
MacDeath nickte. »Ja, kann sein. Dass er Gayo mit dem Schwert pfählte, könnte der Täter als eine Art analer Penetration mit einer Klinge empfunden haben, die sich durch den ganzen Körper fortsetzt. Ich glaube aber …« Er verstummte.
»Sie glauben was?«
»Ich bin sicher, das Schwert, das aus dem Mund heraustritt, hat eine noch stärkere Bedeutung, nur will es mir im Moment nicht einfallen.« Er lehnte sich zurück. »Ich habe das schon mal irgendwo gesehen, aber ich komme nicht drauf …«
Clara lächelte. »Dinge kommen dann wieder, wenn man sie nicht mehr sucht.« Ihre Miene wurde wieder ernst, als sie auf die Fotos von Albert Fish und seiner Opfer schaute. »Fish hat dem Jungen das Gesicht zerschnitten«, sagte sie. »Was ist danach geschehen?«
»Am Ende hat er ihn getötet«, erwiderte MacDeath. »Er hat ihm den Bauch aufgeschnitten, hat sein Blut herausgesaugt und sein Fleisch und die Augen gegessen. Ähnlich wie vor Kurzem der Mörder von Bodenfelde hier in Deutschland, der sogar noch bei fortgeschrittener Verwesung aus seinem Opfer Fleisch herausgebissen hat. Nekrophil motivierter Kannibalismus.« Er schob die Teetasse auf dem Tisch hin und her. »Was bei Fish besonders schockiert, ist die Verbindung seiner biederen Lebensweise mit der schrecklichen Realität. Passend dazu sagte er«, MacDeath schaute Clara an, »das Fleisch des Jungen habe ihm besser geschmeckt als jeder Truthahn zu Thanksgiving.«
Clara dachte an die »Banalität des Bösen« , von der Winterfeld oft sprach.
»Die Rechtsmedizin hat Gayos Organe gewogen«, sagte sie. »Es scheint nichts zu fehlen. Der Mörder hat also nichts von seinem Opfer gegessen.«
MacDeath nickte. »Richtig. Das führt uns dazu, dass unser Killer eine möglicherweise andere Motivation hat, dass ihm die Inszenierung wichtiger ist als die eigene Befriedigung, als würde er das Werk für einen anderen vollbringen.«
»War das bei Fish auch so?«
»Ja. Er hat sich Nadeln in den Hintern gesteckt. Dutzende.«
Clara zog die Augenbrauen zusammen.
»Durch den Schmerz, den die Nadeln ihm verursachten«, fuhr MacDeath fort, »sah er sich in der Nachfolge Christi, wie er selbst erklärte. Genauer gesagt im Leiden Christi, der Passion. Die Nadeln in seinem Fleisch waren für ihn wie die Nägel Christi am Kreuz. Manchmal hat er sich auch mit Benzin getränkte Baumwolle in den Hintern gesteckt und angezündet. Er sah sich beinahe als Märtyrer, der den Willen Gottes ausführt. Vor Gericht gab er zu Protokoll, er habe Visionen von Jesus und den Engeln gesehen. Angeblich hatte Gott ihm befohlen, den kleinen Jungen zu töten, zu verstümmeln und teilweise zu essen. Nachbarn berichteten, dass Fish wiederholt in der Nacht bei Gewitterstürmen auf einem Hügel stand. ›Ich bin Christus‹, hat man ihn oft rufen hören.«
Clara überlegte einen Moment. Fish hatte sich als Auserwählten Gottes gesehen, also mussten auch seine Taten im Einklang mit Gott stehen. »Er betrachtete seine Morde als gottgewollt?«, fragte sie.
»Korrekt.« MacDeath setzte seine Brille wieder auf. »Dominanzfantasien, wie man sie schlimmer kaum findet.« Er blätterte die Seite um. »Dazu passt auch sein Ende. Als er zum Tode verurteilt wurde, sagte er: ›Ich freue mich auf das Feuer, das sicher heißer brennt als all die Flammen, mit denen ich mir selbst Schmerz zugefügt habe.‹ Er starb am 16. Januar 1936 auf dem elektrischen Stuhl.«
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