Seelenangst
Vorschein. Einen Gegenstand, den der Mann nie hätte herunterschlucken können, ohne ihn in das Klebeband zu wickeln, da er viel zu scharfkantig war.
»Sieht aus wie ein …«, begann von Weinstein.
»… ein Schlüssel«, ergänzte Clara und trat näher heran. »Könnte ein Schließfachschlüssel sein.«
Ein Schlüssel zu einem Schließfach. Doch was war in dem Schließfach?
»Hatte er noch etwas dabei?«, fragte sie.
Von Weinstein zeigte auf verschiedene Habseligkeiten, die in einer Plastikschüssel neben dem Sektionstisch lagen.
»Taschentücher, Nasentropfen, Aspirin, Kaugummis. Und das Handy, das ihr schon habt.«
Clara blickte auf die Uhr. Der Stasi-Mann, zu dem Freese den Kontakt hergestellt hatte, wartete bereits.
»Also gut«, sagte sie. »Können Sie diesen Schlüssel zum LKA bringen? Sie sollen sofort herausfinden, zu welchem Schließfach er passt und den relevanten Schließfachinhalt konfiszieren. Ich rufe von unterwegs Hermann an.« Sie blickte ein letztes Mal auf die Leiche. »Er muss unbedingt das iPhone knacken. Dann erfahren wir hoffentlich, wem es gehört und bekommen Zugang auf seinen E-Mail-Account. Okay?«
Von Weinstein nickte und zog sich die Gummihandschuhe aus. »Stets zu Diensten.«
Clara wandte sich an MacDeath. »Und wir fahren jetzt zur Stasi?«
Der nickte. »Mit dem größten Vergnügen.«
Freese hatte das Ganze mit stoischer Tapferkeit ertragen. Allmählich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.
»Grüßen Sie Kremmer schön von mir«, sagte er.
»Darauf können Sie Gift nehmen.«
12
ADK. Allee der Kosmonauten. Die mehrspurige Straße, die einst Springfuhlstraße geheißen hatte und in deren Mitte die Straßenbahn fuhr, verband die Berliner Bezirke Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf und trug ihren Namen zur Erinnerung an den Flug des russischen Raumschiffs Sojus 31 zur Raumstation Saljut 6 im Jahre 1978. Im Volksmund nannte man sie seitdem kurz ADK. Wer am Flughafen Tegel in ein Taxi stieg und sagte, er wolle zur ADK, damit aber die Akademie der Künste meinte, konnte sich schnell an dieser zugigen, von Plattenbauten gesäumten Straße wiederfinden, wenn er einen Fahrer aus dem Osten der Stadt erwischte.
Vor dem Haus Nummer 33 stiegen Clara und MacDeath aus dem Wagen.
Als Erstes hörten sie das Bellen eines Hundes.
»Ruhig, Wotan«, sagte eine heisere Stimme. Sofort erstarb das Bellen. Dann wurde die Tür, die innen mit einer Kette gesichert war, einen Spalt weit geöffnet.
»Ja?«, fragte die Stimme. Clara sah ein Auge, davor eine gelbliche Brille, die wahrscheinlich noch aus den Sechzigerjahren stammte.
»Clara Vidalis, LKA Berlin«, sagte sie, zeigte ihren Ausweis und schaute hinter sich. »Das ist mein Kollege Professor Friedrich. Wir haben einen Termin mit Joseph Kremmer.«
»Der bin ich.« Kremmer öffnete die Tür. Wasserblaue Augen schauten müde aus einem Gesicht, das so ausgeblichen wirkte wie ein Buchrücken, der auf dem Regal immer nur in der prallen Sonne gestanden hatte. Die grauen Haare waren sorgfältig gescheitelt. Clara nahm den Geruch von Wodka und Zigaretten wahr. »Mein Hauspage hat heute frei, aber Wotan leistet Ihnen auch gerne Gesellschaft.«
Kremmer rang sich ein Lächeln ab und zeigte auf den schwarzen Labrador, der zu seinen Füßen saß und die beiden Ankömmlinge neugierig, aber ruhig betrachtete. »Früher hatte ich einen deutschen Schäferhund«, fuhr Kremmer fort, »aber die Viecher sind überzüchtet. Irgendwann sind die Hüften verschlissen, Hüftdysplasie oder wie das heißt, und dann müssen sie eingeschläfert werden wie damals mein Erich. Ich will nicht, dass Wotan auch wieder vor mir stirbt.«
»Ein braver Hund«, sagte Clara. Sie hätte ihn gerne gestreichelt, verbiss es sich aber, Kremmer um Erlaubnis zu fragen.
»Erziehung ist alles«, sagte Kremmer. Er trug Hausschuhe aus Filz, ein blaues, schlecht gebügeltes Hemd und eine speckige Strickjacke. Seine gelbliche Brille war mit einer dünnen Kette versehen, die er um den Hals trug. »Mit Hunden ist es wie mit Menschen. Man muss ihnen zeigen, wo es langgeht. Wenn jeder tut, was er will, bricht auch das beste Staatsgebilde auseinander.«
»Ein Labrador, nicht wahr?«, fragte Clara.
Kremmer nickte. »Labrador heißt Bauer auf Spanisch. Wir zwei sind die letzte Bastion des Arbeiter- und Bauernstaates. Wotan ist der Bauer, ich der Arbeiter.« Er hustete. »Streicheln Sie ihn ruhig.«
»Freut mich, dass Sie sich Zeit für uns nehmen«, sagte Clara, wobei sie Wotan den
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