Seelenasche
er keine fassbare Gestalt; wie sollte man ihn da bei sich erkennen, räsonnierte Jordan. Auf der einen Seite fragte er sich, wie ein allmächtiger und unendlicher Gott das Böse zulassen konnte; auf der anderen Seite sagte ihm sein Gefühl, dass das Böse einfach nur der Zufall war. Wenn dies so war, wurde die Sache aber noch absurder: Wie konnte ein allmächtiger und allgegenwärtiger Gott damit einverstanden sein, sich die Welt mit dem Zufall zu teilen? Oder war etwa auch der Zufall ein Teil Gottes? Auf der anderen Seite war Jordan klar, dass ohne ein höchstes Wesen das menschliche Leben, das Denken, ja, das ganze Universum sinnlos waren. Vielleicht war es ja so, dass Gott erst den Raum mit Geist begabt hatte, die Naturgesetze und die Materie geschaffen hatte und sich dann aus unerfindlichen Gründen zurückgezogen hatte in seine Unbelangbarkeit und erhabene Indifferenz? Egal. Was auch immer er früher über Gott gedacht hatte â jetzt betete er. Leidenschaftlich. Linkisch. Und mit vor Angst klappernden Zähnen.
Zwei Tage später rief ihn im Sender die nach dem Tode Wangas berühmteste Wahrsagerin und Fernheilerin Bulgariens an. Das kam so unerwartet, dass Jordan es im ersten Moment nicht wahrhaben wollte. Ihre Stimme hörte sich so grob an wie die eines Menschen, der hier eigentlich nur seine Zeit verlor:
»Ich kenne dich«, begann sie respektlos, »du mich nicht, aber das ist ganz egal.«
»Was reden Sie da! Es ist mir eine Ehre, Sie â¦Â«
»Wie schon gesagt â ganz egal. Gestern war Neda bei mir. Du fühlst dich schlecht, und ihr geht es auch nicht gut.«
Ihm wurde ganz anders. Er fühlte, wie die Angst wiederkam, dieses beklemmende Gefühl jener frühen Morgenstunden, als er Neda neben sich im Bett gespürt, ihren Duft gerochen hatte, und wie sie aufgestanden war, sich in Licht aufgelöst hatte und vom Vorhang aufgetrunken worden war.
»Jetzt bibberst du aber, was?«, lachte die Wahrsagerin trocken. »Neda hat mich gebeten, dir auszurichten, sie sei nicht getauft und gehöre drüben weder zu den Orthodoxen noch zu den Katholiken oder Evangelischen, den Muslimen ⦠Du sollst in die Kirche Siebenheiligen gehen und sie und ihre Tochter Jana taufen lassen. Sofort!«
Zwei Tage später rief sie ihn wieder an, diesmal zu Hause. Er erkannte sie an ihrem asthmatischen Atem.
»Hör mal, Herzchen, weiÃt du, was das für eine Einsamkeit ist da unter diesen erloschenen Fenstern an diesem Scheideweg?«
»Ich tue ja alles, ich habe nur passende Taufpaten gesucht«, versuchte Jordan sich zu rechtfertigen.
»Ich habe nicht das Geld, um überflüssige Telefongespräche zu führen; besser könnte ich für diese Pfennige einem armen Schlucker was zu essen kaufen. Ich hatte gesagt, sofort!«
Jana bereitete die Taufe groÃes Vergnügen, und zum Entsetzen ihrer Tante Dessislava schüttete sie sich aus vor Lachen, als die Taufschale scheppernd auf den Boden fiel und etwas von dem Weihwasser Jordan gegen die Beine spritzte. Zwei Wochen später wurde ihm im Sender ein Umschlag zugestellt, der nach alter Frau und Heilkräutern roch. Er enthielt eine schlichte, auf Papier gedruckte Ikone der heiligen Maria mit dem Kinde.
3
Alle Lampen im Wohnzimmer brannten, als Jordan mit dem Hauch winterlicher Kälte eintrat. Seine Tochter hatte noch Angst, allein zu Hause zu bleiben, und so hatte sie Festbeleuchtung in der ganzen Wohnung gemacht. Das hatte sie von ihrer Mutter Neda, die ihr, um sie zu trösten, eingeredet hatte, dass Licht das Böse vertreiben würde, während die Dunkelheit es anlocke.
Er zog seinen Mantel aus und rief nach Jana. Sie war aber weder in ihrem Zimmer noch in der Küche. Mit ihrer schnörkeligen Handschrift und einem Lippenstift Nedas hatte sie auf den Badezimmerspiegel geschrieben: »Ich bin bei Tante Dessi und Onkel Sim! Du bist ja nie da!! Die sind gut, weil sie immer zu Hause sind!!!!« Die Ausrufezeichen wurden nicht nur mit jedem Satz mehr, sondern auch immer dicker, wie drohende Zeigefinger, die näher kamen. Jordan musste lächeln. Im Spiegel fiel sein Blick auch auf das Erdbeben-Notpaket. Seit mehr als zehn Jahren hatte es kein Erdbeben mehr gegeben, aber es hing immer noch da, sinnlos und mit verstaubter Vorausverzweiflung, gefüllt mit warmer Kleidung, die schon längst Opfer der gefräÃigen Motten geworden war, mit Taschenlampen mit
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