Seelenasche
Wohnzimmer, kurz darauf hörte Dessislava, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel. In verlogener Empörung. So wie ein Taschendieb, der rief: »Haltet den Dieb!« Sie kratzte sich am nackten Bein und seufzte erleichtert. Auf diese Tour würde sie ihre Ehe nicht retten, aber wenigstens den Cognac, den er auf höchst unehrenhafte, echtes Vertrauen vortäuschende Weise mit ihr hatte teilen wollen.
9
Im Sender war so viel zu tun, dass Jordan sich verspätete. Ihr kam es so vor, als ob er sich ungebührlich, regelrecht unverzeihlich verspätete. Jana saà auf dem Kanapee und lutschte an einem ihrer Zöpfe. In ihrer charmanten Dickköpfigkeit war sie auf dem besten Wege, in Dessislavas FuÃstapfen zu treten. Sie wollte einfach nicht groà werden. Sie traute dieser Welt nicht, die ihr die Mutter genommen hatte, sie in Schmerz und Einsamkeit gestürzt hatte, als wären Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit Wunder, über die sie nun ein ganzes Leben lang in Begeisterung geraten sollte. Sie war inzwischen elf Jahre alt und eine sehr gute Schülerin, verhielt sich aber mit ihnen, als sei sie gerade eben eingeschult worden. Dessislava tat alles, was in ihrer Macht stand, um sie in die Realität zu holen, sie mit den Menschen und Dingen dieser Welt zu versöhnen, ihr den hinterhältigen Gedanken einzuimpfen, wie schön es doch sei, nach Glück zu streben und vor allem: sie aufzuklären, damit das Frauwerden nicht so ein Horror für sie wurde wie bei ihr, sondern sich als ganz normale Entwicklung eines Mädchens halt irgendwann ereignete.
»Tante Dessi, warum bist du traurig?«, fragte Jana scheu.
»Weil sie mir heute etwas vorgemacht und mich dadurch verletzt haben.«
»Haben sie dich in ânem Geschäft übers Ohr gehauen?«
»Nein, es war ein Mensch, dem ich geglaubt und vertraut habe.«
»Wer?« Jana seufzte und lieà ihren Zopf in Ruhe.
»Ein Freund, von dem ich dachte, dass er mir sehr nahestünde.«
»Ich dachte auch, Mama steht mir nahe, und sie hat mich trotzdem übers Ohr gehauen und ist weggegangen.«
»Komm, red nicht wieder, als wärst du sooo klein. Du bist schon ziemlich groÃ.«
»Klar bin ich groà ⦠aber auch schlau.«
Darauf sagte Dessislava nichts mehr. Sie konnte noch nicht einmal weinen. Schaute einfach nur durchs Fenster nach drauÃen, wo die Schwärze immer dichter wurde. Plötzlich musste sie wieder an ihre GroÃmutter denken. Die hatte auch so in der Küche gesessen wie ein Vögelchen â ein Vögelchen, das sich zum Abflug bereitmachte. Sie war so Stunde um Stunde sitzen geblieben, den Blick ins Nichts gerichtet, in die Zeit oder darüber hinaus, etwas, das zugleich existierte und nicht existierte, wie Gott oder die Menschen, verdammt, hinter den Schleier des Sichtbaren zu schauen und die Welt als Ansammlung von Zeichen zu betrachten, die auf etwas anderes verwiesen. »Die Nacht wird kommen, Kindchen«, hatte GroÃmutter ihr mit Märchenerzählerstimme gesagt, »wenn auch du ins Uferlose nach drauÃen starren und meine Gedanken verstehen wirst!«
Dessislava starrte in die schwarze Wüste da drauÃen, in die erhabene Leere der Zeit und spürte, dass diese Stunde für sie noch nicht gekommen war.
10
Aus dem Intershop hatte er eine teure Flasche Johnny Walker Black Label gekauft, und auch sonst verhielt er sich zwar reserviert, aber höchst aufmerksam zu ihr. Sie hatte überdies heute ein Stück Toilettenseife gefunden, Waschpulver, Erdnüsse, und Strom gab es auch. Zur Feier des Tages hatte sie beide Deckenlampen eingeschaltet, obwohl die Sonne noch gar nicht untergegangen war. Als höchsten Ausdruck ihrer Wohlgesonnenheit für ihren Gast hatte sie sogar beide Strümpfe angezogen. Christo saà im Sessel mit dem Rücken zum Fenster, in dem die Sonne, machtlos gegen das elektrische Licht, ihr Untergangsspektakel aufführte, und lächelte mit der nostalgischen Versonnenheit dessen, dem ein verheiÃender, eigentlich unerreichbarer Traum in Erfüllung gegangen ist. Wenn Christo in solchen Stimmungen war, hatte er immer etwas sehr Anziehendes. Simeons Schönheit war dagegen flach und langweilig wie eine symmetrisch gebaute Kulisse und zeugte von nichts als Gutmütigkeit; bei ihrem Vetter hingegen war alles dramatisch und daher zutiefst berührend. Es sättigte die Luft und versprach Passion. Seine Augen hatten das
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