Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
erbarmungslos sein, aber im heutigen Chaos hast du wenigstens das Gefühl , eine Chance zu haben, während du in der Zwangsordnung vorher wusstest , du hast keine !«
    Sie schwieg. Wie sollte sie ihrer Familie nur etwas erklären, was sie selbst nicht ganz verstand: das Recht und die Freiheit haben, auch zu scheitern! Dieses Scheitern war Ausdruck dessen, dass ihre persönliche Entscheidung nicht belanglos war: Gut, sie hatte viel gewinnen wollen, und hatte alles verloren. Doch in dem Kampf um Ehrlichkeit und Transparenz im Geschäftsgebaren solcher Finanzhaie wie Lucky Strike & Co. hatte sie, indem sie all die aufgehäuften Fetische und Surrogate für wahres Leben abgestoßen und verkauft hatte, eine Lebendigkeit freigelegt, die ihr bisher unbekannt gewesen war. Mochte ihr Vorgehen dumm, naiv, ja, unvernünftig sein; es war aber nicht mehr jenes achselzuckende Treibenlassen im grauen Strom der sozialistischen Jahre! Die Entscheidung, zu prozessieren, war einzig und allein ihre, ihre individuelle Wahl gewesen. Und so begriff sie mit der Zeit, dass die Leute den Betrügern nicht nur deshalb so massenhaft auf den Leim gingen, weil sie raffgierig und unerfahren waren, sondern auch, weil sie ausgehungert waren nach freien Entscheidungen, die sie zu unverwechselbaren Menschen machten, zu Menschen, die sich ihre Suppe selbst einbrockten, und sie selbst auslöffelten.
    Emilia war also weder in ihrer Eitelkeit gekränkt, noch war die Prozessiererei zu einer fixen Idee geworden; sie war schlicht und einfach jenseits des Theaters sie selbst geworden, Emilia, ein weiblicher Sisyphos, der seinem Stein mit jeder Vertagung, jedem neuen Prozesstag immer neue Nuancen abrang. Da ihr dies nicht bewusst war, entwickelte sich bei ihr ein unbekanntes, mystisches Gefühl staunender Verehrung. Eine unerklärliche, aber leidenschaftliche Religiosität, von keiner Kirche, keinem Glaubensbekenntnis geknebelt, brach bei ihr aus, ein Glaube an etwas sowohl Namenloses als auch Unnennbares, das nur der lebendige Gott aller Dinge sein konnte.
    Â»Ich bin euch ja so dankbar«, sagte sie und schluckte ihre Tränen hinunter, »und du, Christo, mein lieber und großherziger Junge, beleidige mich nicht. Das hab ich doch nun auch nicht verdient, oder?«
    Dann erhob sie sich, um ein zauberhaft frisches Blumenstillleben mit Schneeglöckchen in einer wassergefüllten Glasvase von der Wand abzuhängen, das so lebendig war wie ihr Gott. Alles tat ihr weh beim Aufstehen – Knochen, Sehnen, Gelenke.
    Einige Monate später, zu Beginn des Frühjahrs 2001, kam Simeon von Sachsen-Coburg-Gotha nach Bulgarien zurück, aus dem er von den Kommunisten als amtierender Kinderzar vor fünfzig Jahren verbannt worden war, und wurde vom Volk mit einem Begeisterungstaumel empfangen, als sei er der Messias, diesmal der wahre. Ohne inhaltlich viel zu sagen, sammelte der zierliche, verhärmt wirkende Mann mit dem dünnen Resthaarkranz im Nadelstreifenanzug mit seinen spärlichen Gesten und seinem holprigen Bulgarisch die Menschen um sich in einer politischen Bewegung, die gerade noch rechtzeitig vor den Parlamentswahlen im Sommer als Partei anerkannt wurde. Emilia hatte den Eindruck, er spräche nur für sie, und bei den Wahlen gab sie, ohne Assen davon etwas zu sagen, Simeon, dem inzwischen der verbürgerlichte Nachnamen Sakskoburggotski verpasst worden war, ihre Stimme. Nur mit Viktoria Sestrimska redete sie darüber, die ebenfalls für seine Partei gestimmt hatte.
    Â»Was auch immer er hält von dem, was er verspricht«, meinte diese, »zumindest wird er einen Keil in dieses verdammte Zwei-Parteien-System treiben, wo immer einer schön den anderen des Raubbaus und der gewissenlosen Habgier beschuldigen kann, bis er wieder an die Macht kommt und dasselbe tut.«
    Â»Er scheint mir intelligent zu sein, weiß wenigstens noch, was gute Manieren sind, und um reich zu werden, braucht er nicht in die Politik zu gehen. Das ist er wohl auch so. Mir scheint, er will die Monarchie wiederherstellen in Bulgarien, meine Liebe, und um dafür werben zu können, muss er uns davon überzeugen, dass er unbestechlich ist. Er muss die Leute hinter sich bringen, sie einen, ihnen das Gefühl geben, ein Volk zu sein, und dazu braucht es Idealismus. Ich weiß zwar nicht, was diese Wirtschafts-Yuppies, die er da aus London als Minister herangekarrt hat, zuwege bringen, aber ich sehe keine

Weitere Kostenlose Bücher