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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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nicht erst, denn er war nicht eitel, und der Sinn des Ganzen, die Reinigung, die Therapie, lag ja im Akt des Schreibens selbst. Irgendwann wurde ihm bewusst: Wenn er nicht mehr schrieb, würde er verrückt werden.
    Als seine Mutter an Krebs erkrankte und er durch einen Zufall gleichzeitig im Auftrag von General Grigorov reich wurde, waren die inneren Spannungen so stark, dass die kleinen, kurzen Formen ihm nicht mehr genügten. Nun waren es Aufsätze und Betrachtungen, in denen er seine seelischen Spannungen im Blitzableiter strukturierter Gedanken erdete. Auch der Gedanke, einen Roman zu schreiben, kam ihm. Leviticus würde der heißen oder Das Gesetz .
    Er erinnerte sich, wie seine Eltern einmal nach Budapest und seine Großeltern nach Moskau verreist waren und er für ein paar Tage bei seiner Urgroßtante Jonka gelassen wurde. Die badete ihn und las ihm aus dem dritten Buch Moses, dem Leviticus, vor. Es hatte geregnet. Blitze erhellten die Nacht und funkten die Welt für einen Leuchtmoment ins Zimmer, dann verschwand sie wieder in undurchdringlichem Dunkel. Er hatte schreckliche Angst gehabt, und Jonka hatte ihn an sich gedrückt. »In diesem Buch«, hatte sie Christo erklärt, »gibt Gott dem Moses die Gesetze für sein Volk.« Als sie müde wurde, gab sie ihm das alte, vergilbte Buch, und er buchstabierte Leviticus 7, Vers 7: »Für das Sündopfer und für das Schuldopfer gilt ein und dasselbe Gesetz .« Und er hatte Jonka gefragt: »Sind Schuld und Sünde nicht dasselbe?« Und Jonka hatte geantwortet: »O nein. Sünde ist ein Vergehen gegen Gott, Schuld ist ein Vergehen gegen Menschen. Und indem Gott sagt, dass dafür ein und dasselbe Gesetz gilt, erhebt er uns zu sich und nimmt uns als Gleiche an.«
    Auch jetzt regnete es wieder. Ein sommerlicher Landregen, der nicht enden wollte. Auch jetzt wieder zuckten Blitze über den Bergkamm des Witoscha. Auf dem Boulevard Bulgaria stauten sich die Fahrzeuge. Die beiden BMWs mit den Leibwächtern, die vor und hinter seinem eigenen Wagen fuhren, hatten Blaulicht auf dem Dach und nötigten damit die Normalsterblichen, mit ihren Kraftfahrzeugen an den Rand zu fahren, so als verlange ein Rettungswagen Durchfahrt oder der Staatspräsident.
    Christo zündete sich eine Zigarre an und dachte seinen Gedanken zu Ende: Um einen Roman mit dem Titel Das Gesetz schreiben zu können, müsste er noch eine Menge Schuld vor den Menschen anhäufen, und Sünden vor Gott, und das bedeutete, dass er eine Untat von wirklich verhängnisvollen Ausmaßen begehen musste.
10
    An diesem Samstag weihte der Geistliche der Kirche von Bojana die hübsche weiße Gedenkkapelle ein, die Christo im Hinterhof seines Anwesens nach dem Tod seiner Mutter hatte errichten lassen. Auf dem säuberlich weißgekalkten Grund der Innenwände hingen einige alte bulgarische und russische Ikonen, der Altar mit dem Erlöser am Kreuz war aus Walnussholz handgeschnitzt.
    In dem kleinen Raum mit der angedeuteten Kreuzkuppel roch es nach Verputz, nach dem Sträußchen Storchenschnabel, mit dem der Priester das Weihwasser versprengte, nach Weihrauch und nach herbstlich-klammer Luft, obwohl es draußen sommerlich schwül und warm war. Christo hatte beim Bau angeordnet, unter einer der Bodenplatten eine versteckte Kammer anzulegen; darin verstaute er all die kleinen Gegenstände, die er seiner Tante Emilia im Laufe der Jahre als geheime Liebespfänder stibitzt hatte, dann die Dinge, an denen seine Mutter gehangen hatte, ihre Brille, Flauberts Roman Madame Bovary , ihre Patience-Karten, ein Foto, auf dem sie als Schülerin zu sehen war, der Fingerhut, den sie sich auf den Zeigefinger stülpte, um ihm Knöpfe anzunähen, ihre schlichte Silberbrosche mit der Perle.
    Er hatte ein Porträt seiner Mutter auf Porzellan ziehen lassen und unter dem ewigen Licht aufgehängt. Von da lächelte sie ihm versonnen zu. Allverzeihend. Während der orthodoxe Geistliche mit klagender Stimme die Liturgie las und das Weihwasser versprengte, merkte Christo, wie ihm die Tränen kamen. Er fühlte sich einsam. Schrecklich einsam und verlassen. Abgestellt und vergessen.
    Wer ihn so sah bei der Einweihung der Kapelle, der konnte nur an Gutmütigkeit und Weichherzigkeit denken; dabei hatte er gestern, nachdem der Kauf einer Zuckerfabrik unter Dach und Fach war, als Erstes einhundertundfünfzig dort Beschäftigte entlassen,

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