Seelenasche
da vor dem Grab seiner Mutter sah vernachlässigt und einsam aus, verlassener noch als die Verlassenheit dieses Ortes, sinnlos und deplaziert. In seiner Hand hielt er einen Zypressenzweig. Ihm dürfte die Zigeunerin vor dem Friedhofsportal wohl kaum die Hand geküsst haben. Als er den Mann erkannte, wollte er umkehren, aber es war zu spät, sein Vater hatte ihn schon gesehen. Auch er wandte verlegen den Kopf ab, um seinem Sohn Gelegenheit zu geben, wieder zu verschwinden oder einfach vorbeizugehen. Zum letzten Mal hatten sie sich auf dem Begräbnis seiner Mutter gesehen, aber nicht ein Wort miteinander gewechselt. Sie hatten nebeneinander am Sarg gestanden, die Beileidsbekundungen der Trauergemeinde entgegengenommen und gewirkt wie zwei Unbekannte, die jeder einer anderen Toten das letzte Geleit gaben.
Sein Vater lächelte schüchtern und wischte sich das Feuchte aus den Augen. Ja, die Kälte! Seine Lippen schimmerten violett wie ein Bluterguss. Christo reichte ihm nicht die Hand und lächelte ihm auch nicht zu. Es stand ihm bis oben hin, zu spielen, als sei er dies, als sei er jenes â nur nicht das, was er gerade wirklich war. Er beugte sich vor und streichelte seine Mutter mit den gelben Rosen, die sie so geliebt hatte, und legte den Strauà auf die hartgefrorene Erde des Grabes. Aus dem Augenwinkel sah er eine Zigeunerin näher kommen mit lachenden Augen und laufender Nase. Er war sich sicher, dass sie in einem Versteck lauern würde, bis er gegangen war, und die Blumen dann mitnahm, um sie noch einmal zu verkaufen.
»Grüà dich«, sagte sein Vater leise.
»Grüà dich.«
»Und, wie gehtâs dir?«
»So lala.«
»Dem Mercedes und den beiden BMWs nach zu urteilen, geht es dir besser als nur so lala.«
»Kann nicht klagen.«
Schweigend standen sie nebeneinander. Die Zigeunerin hatte sich tatsächlich hinter einer Trauerweide versteckt, sich eine Zigarette angezündet und wippte ungeduldig auf ihren FuÃballen.
»Du bist mir also immer noch böse?«
»Wofür?«
»Dafür, dass ich euch verlassen, dich allein gelassen habe.«
»Bin eher darüber böse, dass du es nicht früher getan hast â vor dreiÃig Jahren.«
»Auf der Welle des Erfolges, aber voller Groll. Verletzen, das kannst du.«
»Ich verletze immer nur mich selbst«, erwiderte Christo kühl, holte sich eine Zigarre aus der Tasche, bot aber seinem Vater keine an, dabei wusste er, wie gern der eine genommen hätte. Es wurde immer kälter. Auf dem Friedhofsweg links von ihm warteten ungeduldig seine Leibwächter, rechts von ihm, hinter dem Baum, lauerte ebenso ungeduldig die Zigeunerin. Sein Vater wühlte in der Tasche seines Wintermantels und holte sich auch etwas zum Rauchen heraus, eine Zigarette. Seine Lippen zitterten vor Kälte.
»Ich komme manchmal her, zu Ljuba, bitte sie, mir zu verzeihen!«
»Das hättest du tun sollen, solange sie noch lebte.«
»Hätte ich, ja. Aber jetzt, wo sie nicht mehr ist, fällt es mir leichter. Sie schweigt.«
»Sie ist hier, aber sie schweigt«, wiederholte Christo und verschluckte sich an seinen Tränen.
»Wenn ich es recht bedenke â ich habe deine Mutter immer geliebt. Rasend geliebt! WeiÃt du das?«
»Nein. Ich weià es nicht und glaub es auch nicht.«
»Tief in mir drin spürte ich, dass ich sie nicht verdiente. Dieses Wissen hat mich gedemütigt, mich überanstrengt, mich fix und fertig gemacht. Darum habe ich krampfhaft irgendwas gesucht, wofür ich sie verachten konnte. Verstehst du das?«
»Nein!« Christo befürchtete, in lautes Schluchzen auszubrechen.
»Ich habe auf diese Weise meine Selbstverachtung ⦠will sagen, ich habe sie bestraft, um dadurch mich ⦠Verstehst du?«
Christo hatte nicht gefrühstückt und keine Zeit zum Mittagessen gehabt, aber ihm wurde auf einmal so schlecht, dass er meinte, er müsse sich gleich übergeben.
»Verstehst du mich?«
»Nein, aber Mama hat mir aufgetragen, mich um dich zu kümmern.« Er griff in seine Tasche, holte eine goldene VISA-Karte heraus und reichte sie seinem Vater.
»Hier sind fünfzigtausend Euro drauf. Sind für dich.«
»O nein, danke«, lächelte sein Vater flau, um dann scheinbar zusammenhanglos zu ergänzen: »Bin emeritiert und in Pension geschickt worden.«
»Weià ich.«
»Arbeite jetzt als
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