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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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besser möglichst bald ein Ende setzte, weil sie sich sonst selbst traurig machte. »Hast du das damals gestaltet? Du warst doch im Krieg bei dieser Bestattungsfirma?«
    Â»Ja, das stimmt.« Er versuchte ungeschickt, sich mit einem Scherz Luft zu verschaffen. »Und, wie geht es deinem Onkel Goscho?«
    Â»Schönes Grabmal, sehr beeindruckend. War ein neuer Nachruf drauf. Goschos Ehefrau Sonja Toromanova ist kürzlich verstorben.«
    Obwohl er saß, schien ihr Vater zu taumeln, als er diesen Namen hörte. Seine rechte Hand zitterte auf und ab wie die Nadel einer Nähmaschine. Er hatte kein Parkinson; es passierte aber in letzter Zeit immer öfter, dass er bei starker Aufregung so zitterte.
    Â»Sonja Toromanova. Ja, Sonja …« Er wandte sein Gesicht in den Schatten, damit sie seine Augen nicht sehen konnte. »Manchmal, wenn ich abends nicht einschlafen kann, denke ich, dass unser Leben eigentlich aus den Menschen besteht, die wir gekannt, mit denen wir eng verbunden waren, und am meisten denen, die wir geliebt haben. Wenn diese Menschen von uns gehen und wir ganz einsam sind, geht auch unser Leben zu Ende.«
    Â»Und was ist mit den Erinnerungen?«, fragte Dessislava. »In seinen Erinnerungen ist man doch nie einsam.«
    Â»Die Erinnerungen sind ja nicht die anderen, die sind der Mensch selbst«, erwiderte Assen leise.
    Â»Du bist nicht allein; es gibt so viele, die dich lieben!«
    Â»Nein, jetzt bin ich allein«, widersprach ihr Vater so träumerisch, als habe er einen Blick in die Zukunft getan und dort etwas Beflügelndes entdeckt. »Von heute an bin ich unwiderruflich abgesegnet!«
18
    Ihr Schlaf war unruhig und voll bunter Bilder, er überkam sie quälend und plötzlich. Dessislava war sich bewusst, dass sie schlief, aber so panisch sie sich auch in Gedanken zurief, na los, aufwachen, na komm schon!, es gelang ihr nicht, diesen schweren Vorhang zur Seite zu schieben.
    Sie träumte von Jonka. Ihre Großmutter saß im Nordzimmer am Fenster, das auf die Straße ging, aber nicht auf einem Stuhl, sondern auf etwas wie einer Wolke. Durch den Fensterrahmen sah man hinaus in tiefschwarze Nacht. Und auf Schneeflocken, die durch den Lichtkegel der Straßenlaterne wirbelten. Es war still und einsam. Jonka hatte ihren Kopf auf die Hand gestützt und schaute untröstlich hinaus. Hinaus ins Zufällige, Ewige, Unerklärliche. Ihr silbrig schimmernder Zopf war zu einem Dutt aufgesteckt und hatte in ihrem Nacken das Gewicht eines ganzen langen Lebens. Ihr Kleid war schwarz und unterstrich die Feier ihrer Einsamkeit. Sie glich einem Nachtvogel, der aus der Finsternis herbeigeflogen war und hier am Fenster nur Rast machte, bevor er weiterflog.
    Â»Warum bist du gekommen und störst mich auf?«
    Â»Weil du dich einfach nicht erkennen willst. Hör auf, dich für dich zu schämen!«
    Â»Was soll das heißen?«
    Â»Dessi, gesteh dir endlich deine Liebe ein!« Jonkas Stimme hallte wider im Raum des Traumes.
    Â»Quatsch! Was für eine Liebe denn?«
    Doch diese Protestfrage kam nicht an, weil ihre Stimme erst versteinerte und ihr dann als Steinstaub zu Füßen fiel. Ihr Mund war trocken, ihr Kopf leer wie der Raum um eine Statue, ihr Herz bebte vor Angst. Sie bekam Beklemmungen.
    Â»Widersprich nicht, du weißt es doch seit langem selbst – wie die Nacht den Morgen weiß, die Wunde den Schmerz und die Krankheit das Kraut erkennt, das sie heilt. Du liebst ihn mehr als dich selbst!«
    Â»Lüg doch nicht so, Oma! Warum ärgerst du mich? Lass mich endlich in Ruhe wach werden.«
    Â»Gib es einfach vor dir zu, und hör auf, dich dafür zu schämen!«
    Â»Aber wer ist es, Großmutter?«
    Da lachte Jonka nur mild und leise, und im Zimmer klangen kleine Glöckchen. Die Nacht und ihr nachtschwarzes Gewand verblassten, der wirbelnde Schnee wurde rauchgrau, dann kohleschwarz, saugte sie auf. Da stöhnte Dessislava auf und erwachte von ihrer eigenen Stimme, die fragte:
    Â»Wer ist es?«
19
    Der Tod seiner Tante Ljuba hatte ihn mit sanfter Trauer erfüllt. Von all seinen Verwandten in Sofia war sie ihm die liebste gewesen. Außerdem verband sie ja ihr Engagement für die armen Kinder von Russe, die von den Chlorgaswolken des Chemiewerks am anderen Donauufer so schwere Atemwegserkrankungen bekamen. Der Tod seiner anderen Tante, Emilia, berührte ihn hingegen nicht so sanft, sondern

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