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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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verkleideten Haus und war – verglichen mit den kleinen Wohnungen aus sozialistischer Zeit – wirklich riesig. Es war fast leer, aber penibel gereinigt, als habe die Vorbesitzerin noch eben schnell vor ihrem Ableben Staub gewischt. Durch die geputzten Fenster hatte man tatsächlich einen Blick auf die Kuppeln der Newski-Kathedrale. Sonja Toromanova hatte nichts von Erinnerungswert hinterlassen, weder ein Familienbuch noch alte Briefe, kein Fotoalbum und kein Liederbuch aus Kinderzeiten, nichts, womit sie der Nachwelt im Gedächtnis bleiben konnte. Welche der sechs Türen des Kleiderschranks Dessislava auch öffnete, ihr schlugen fast nur der Geruch alten Holzes und der unvermeidliche Hauch von Mottenpulver entgegen. Die etwa zehn erhaltenen Kleider unterstrichen mit ihrer altmodischen Eleganz nur die Leere des riesigen Aufbewahrmöbels. Alles andere, was man in der Wohnung eines Verstorbenen vermutete, war entweder weggeworfen oder sorgfältig in Schubläden verstaut. Auf dem Frisiertischchen im Schlafzimmer lag der verbliebene Schmuck Sonjas, meisterhafte Stücke einstiger Goldschmiedekunst, die wie durch ein Wunder die maßlose Verschwendungssucht ihres Ehemanns Georgi Pantov überstanden hatten. Sie waren nicht einfach so dort hingeworfen worden, sondern sorgfältig ausgebreitet, als könnten sie sonst beschädigt werden. Neben den Schmuckstücken lag ein Briefumschlag, auf den eine sichtlich aufgewühlte Frau das Wort »Petuniensamen« geschrieben hatte. Alles deutete darauf hin, dass diese Frau gewusst hatte, dass sie aus dem Krankenhaus nicht mehr in diese Räume zurückkehren würde, und so hatte sie auf ihre aristokratisch dezente Art alle für ihre Erbin belastenden Spuren ihres Lebens beseitigt, und so gehörte diese Wohnung vom Augenblick des Betretens an wirklich ihr.
    Dessislava machte erst gar nicht den Versuch, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie weinte aus Dankbarkeit, aber auch, weil sie so überwältigt war von dieser umfassenden Rücksichtnahme, die an alles gedacht hatte. Auf dem Nachttischchen lag scheinbar zufällig eine Schachtel mit drei restlichen Zigaretten. Intuitiv griff Dessislava nach einer. Das Rauchen beruhigte sie. Ohne Gewissensbisse steckte sie sich den Brillant- und den Rubinring an, band sich das Smaragdarmband um, und um das stillose Probetragen komplett zu machen, legte sie sich auch noch das Diamantcollier mit der riesigen, in allen Farben schillernden Perle um den Hals. Dann betrachtete sie sich in dem uralten, an mehreren Stellen gesprungenen Spiegel mit seinen Roststellen. Sie streichelte über die Juwelen, dann legte sie sie wieder genau so auf das Nussbaumtischchen hin, wie es Sonja getan hatte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sogar die Bettwäsche gewechselt war. Die Kniffe am Kissenbezug verrieten überdies, dass die Bettwäsche nicht nur frisch, sondern vollkommen neu war. Sie brauchte sich nur ins Bett zu legen und konnte unbesorgt einschlafen, denn das war ihr Bett! Aber als Erstes musste sie auf den Friedhof, das Grab ihrer Mutter und das von Tante Ljuba besuchen, und um Tante Sonja ihren Dank abzustatten.
17
    Erst am frühen Abend kehrte Dessislava heim, erfüllt von Friedhofsstille und dem Duft humusreicher Erde, von schweren Schatten, herbgrünem Geranium und feuchtem Buchsbaum. Ihr Vater saß lesend im Wohnzimmer. Da er nichts Wichtiges mehr zu tun hatte, hatte er es sich angewöhnt, auf sie zu warten, und das belastete sie. In ihrer Erinnerung war er groß und stark, unabhängig, manchmal platzend vor innerer Spannung wie der Himmel vor einem Gewitter. Im Ohrensessel aber saß nun ein Häuflein Elend mit grauen Haaren, und die Stoppeln, die er trotz gründlicher Rasur an Wangen oder auf dem Hals schlicht übersah, ließen ihn gar hilflos wirken. Er ging gebeugt, tastend, schlurfend. Seine Augen tränten. Dabei war er im Kopf noch immer glasklar; sein Gedächtnis funktionierte tadellos. Dieser schreiende Widerspruch zwischen Kopf und Körper gab seinem Gesichtsausdruck etwas, das an einen Märtyrer erinnerte. Wie sie ihn so ansah, hätte sie beinahe wieder zu weinen begonnen.
    Â»Warum suchst du dir nicht eine Beschäftigung«, hatte sie ihm einmal halb ernst, halb im Scherz vorgeworfen. »Du könntest doch deine Bücher überarbeiten, zum Beispiel.« Aber er hatte kurz und bündig geantwortet:
    Â»Geschrieben ist geschrieben; es wäre nicht

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