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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Sonntag. Ich kam aus der Kirche, und da sah ich als Erstes Ihre Frau Mutter, Emilia Weltscheva, und dann Sie, und ich weiß nicht, warum, aber mir kam es so vor, als bräuchten Sie Hilfe, verstehen Sie?«
    Â»Nein.«
    Â»Na, schon damals hätten Sie Verständnis und Hilfe gebraucht, und darum habe ich mich eben entschlossen, Ihnen meine Wohnung zu vererben.«
    Diese Erläuterung hatte sie so viel Kraft gekostet, dass sie erschöpft schwieg. Wieder holte sie das Taschentüchlein aus ihrer Handtasche, hielt es zwischen ihren Händen und zupfte versonnen daran.
    Â»Außerdem gefällt mir das Theater, das Sie machen, und ich weiß sehr gut, wie schwer es ist, unter den heutigen Umständen etwas Gutes zuwege zu bringen. Nehmen Sie mein Angebot doch einfach als kleine Geste der Wertschätzung für eine Frau, die das bulgarische Theater hochhält.«
    Mit dem letzten Argument traf Sonja Toromanova Dessislavas schwache Stelle; sie merkte, wie ihr schwindlig wurde vor Verwirrung.
    Â»Ihr Angebot ist wirklich außerordentlich verlockend, und Sie sind ein guter und großzügiger Mensch; trotzdem muss ich ablehnen, gnädige Frau.«
    Die Frau am Fenster zuckte zusammen, als habe man sie geohrfeigt. Ihr einer Arm zuckte in einer konvulsivischen Bewegung hoch, erschlaffte aber wieder und fiel zurück in ihren Schoß. Tränen liefen ihre Wangen herab, dicke, untröstliche Tränen. Einen Moment lang verhielten sie auf den Falten um ihren Mund, dann stürzten sie sich übers Kinn den Hals herab. Sonja Toromanova schien gar nicht zu spüren, dass sie weinte, so abwesend war sie. Und auf einmal fragte sich Dessislava: Was treibe ich da nur mit dieser wehrlosen und von einer unerfüllten Liebe erleuchteten Frau? Ein Gefühl der Betroffenheit überkam sie. Alles lag ihr quer, und das nicht wegen dieser alten Frau, an der so viel Leben achtlos vorbeigegangen war, sondern ihrer selbst wegen.
    Â»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich schroff war. Wenn ich Ihr Angebot annähme, würde das bedeuten, dass ich auf Jahre hinaus abgesichert wäre, und das hatten Sie sicher im Sinn. Würde es Sie glücklich machen, wenn ich …«
    Â»Nicht bloß glücklich, sondern vor allem ruhig. Ich wüsste dann, dass mein Leben nicht vergeblich verflossen ist.«
    Â»Wenn das so ist … dann lassen Sie uns doch meinen Onkel jetzt anrufen. Ich denke, ich habe Sie verstanden.«
    Â»In dem Vertrag, den Anwalt Weltschev aufgesetzt hat, steht, dass ich Ihnen die Wohnung vermache, wenn Sie mich bei Altersschwäche pflegen. Aber seien Sie da ganz unbesorgt, Sie haben keinerlei Verpflichtungen. Ich bin einfach sehr müde geworden, bereit, abberufen zu werden.«
    Dessislava trat auf sie zu, ergriff ihre Hand und sagte: »Wie soll ich Ihnen nur danken?«
    Â»Oh, sehr einfach«, erwiderte die Frau beschwingt und wusste auf einmal, was sie mit ihrem Taschentüchlein anstellen sollte. »Wir vertagen ständig unser Leben auf später, und auf einmal sind wir alt. Dann schämen wir uns für unseren welken Leib und werden gewahr, dass es für alles zu spät ist.« Vor lauter Aufgewühltheit schnappte sie nach Luft. »Wissen Sie, ich bedaure nichts, wirklich … Trotzdem erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, nein, Sie zu bitten: Sollten Sie sich einmal verlieben, verstecken Sie es nicht vor sich und vor dem, den Sie lieben. Tun Sie sich dieses Unglück nicht an! Indem Sie mir das versprechen, können Sie mir Ihren Dank abstatten.«
16
    Zwei Monate später, an einem sonnigen Junitag, meldete sich ihr Onkel Alexander telefonisch und bat sie, in seine Kanzlei zu kommen. Auf seinem Schreibtisch prangte ein dramatisches Stillleben aus einer ausgebleichten Aktenmappe, einem uralten Sicherheitsschlüssel aus Messing und … dem gedruckten Nekrolog von Sonja Toromanova. Auf dem unansehnlichen Blatt im Schreibmaschinenformat war kein Foto der Verstorbenen. Als Autoren dieser Beileidsbekundung fungierten »die Nachbarn in tiefer Betroffenheit«. Dessislava erschauerte unwillkürlich.
    Â»O weh, ich wusste ja gar nicht …«
    Â»Frau Toromanova hat niemanden benachrichtigt«, sagte ihr Onkel verwirrt und reichte ihr die Mappe. »Hier ist die notariell beglaubigte Urkunde über die Erbschaft, und hier der Schlüssel zu der Wohnung.«
    Dessislavas unverhofftes Eigentum befand sich in einem stilvollen, mit Steinplatten

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