Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
erschütterte ihn, weil die Umstände ihres Ablebens seine Vorstellungen von Gut und Böse ins Wanken brachten und in einer Marijkin’schen Trotzreaktion seinen Gerechtigkeitssinn noch mehr aufstachelten. Dessislava hatte ihn telefonisch benachrichtigt und beim Erzählen des Vorfalls geweint.
    Krum Krumov hatte in diesem Moment des Schmerzes und der Empörung begriffen, dass er etwas unternehmen, in seinem eintönig wie die Donau dahinfließenden Leben etwas ändern musste, sonst war es ein für alle Mal aus mit ihm. Dann würde er sich wie viele seiner Bekannten auf immer in einen noch jungen, vergleichsweise gesunden und intelligenten »Loser« verwandeln, einen von denen, die ständig jammerten, mehr und mehr verarmten und abstumpften, an den Rand der Gesellschaft rutschten und nach und nach von allen vergessen wurden. Also verkündete er, er wolle nach Sofia fahren, um dort sein Glück zu versuchen; aber seine Mutter äußerte Bedenken, dass er in der Anonymität und Kälte dieser Millionenstadt vereinsamen würde. Vielleicht hatte sie auch nur Angst, selbst einsam zurückzubleiben. Am Ende blieb er in Widin.
    Zu seiner zukunftsweisenden Entscheidung trug aber auch bei, dass eines Sommerabends, als die Sonne über der Donau ihr Farbentheater aufführte, ein Mann in schwarzem Winteranzug sich aus dem Buschwerk gegenüber löste, wo er auf ihn gelauert hatte, und humpelnd auf ihn zuging. Krum Krumov erkannte sofort Schuschulkov, den alten Anwalt. Er war noch mehr vergreist. Seine Gesichtshaut glich gelblichem Pergament, und er roch geradezu nach langsamer Zersetzung. Sein rechtes Auge fixierte Krum, das linke rotierte ziellos umher.
    Â»Sie haben sich ja gar nicht gemeldet, Herr Weltschev«, begann der Anwalt vorwurfsvoll.
    Â»Ich wollte über die Sache nachdenken …«
    Â»Ich befürchte, wenn wir länger zuwarten, verpassen wir die letzte Möglichkeit, Verzeihung, Lapsus Linguae, den letzten Zug.«
    Â»Ich gebe zu, es ist jetzt Jahre her«, antwortete Krum, als stelle die pure Dauer seiner Gleichgültigkeit eine Rechtfertigung dar.
    Â»Ich habe die große Befürchtung, dass Sie, wenn Sie weiter so ausgiebig und ergebnislos nachdenken, alle Fristen überschreiten, und bald werde auch ich nicht mehr zur Stelle sein. Ich werde siebenundachtzig, und das ist ein Alter, in dem jeder Tag ein Geschenk ist, anders gesagt, in dem man schon seinen Ranzen für die große Reise schnürt.«
    Ãœber dem Fluss flatterte ein Schwarm Raben auf und ließ sich mit lautem Krächzen auf der gewaltigen Kastanie nieder, die vor dem Häuschen von Krum Krumov und seiner Mutter stand. Der Baum schien sich zu neigen unter der Last der großen Vögel.
    Â»Schauen Sie, die Lage bei uns ist zum Verzweifeln schlecht. Wir leben nur von der kleinen Rente meiner Mutter. Woher soll ich denn die erforderlichen Geldmittel nehmen?«
    Â»Zu Ihrem Glück ist kein Geld nötig, Herr Weltschev, sondern nur guter Wille, einwandfreie Dokumente und – das schützende Händchen, das der Herrgott über Sie hält. Um mich deutlicher auszudrücken, es braucht außer ein wenig Demut vor dem Eigensinn des Lebens und der Veränderungen, die es uns zumutet, auch ein bisschen Gespür für die Kontinuitäten, ein bisschen Respekt und Ehrfurcht vor dem, was die Geschichte uns erzählt.«
    Â»Ja, wenn das so ist …« Die einzige wirkliche Entschlossenheit Krums bestand darin, dem wild rotierenden rechten Auge Schuschulkovs auszuweichen, und um irgendetwas zu tun, klopfte er dem Alten das Revers seines Anzugs sauber.
    Â»Na, dann kommen Sie am besten gleich in meine Kanzlei, um die Dokumente zu unterzeichnen. Für meine Mühen, und dafür, Ihrem verehrten Herrn Großvater mehr als fünfzig Jahre lang die Treue gehalten zu haben, zahlen Sie, was Sie können, Lapsus Linguae, ich wollte sagen, wann Sie können, denn pecunia non olet , wie der Lateiner sagt.«
20
    Die Nachricht, dass Krum Krumov die alte Porzellanfabrik wiederbekommen hatte und nun Großeigentümer war, lockte in Widin niemanden hinterm Ofen hervor, brachte es noch nicht einmal zum Stadtgespräch, geschweige denn zur Legende. Weder in den Barbierstuben noch in den Kaffeehäusern ging es von Ohr zu Ohr, erstens, weil sich niemand für die baufällige, ausgeschlachtete, in den Konkurs getriebene Fabrik interessierte, und zweitens, weil

Weitere Kostenlose Bücher