Seelenasche
ungeträumte Welt vor der Geburt. Sie stotterte, unfähig, ganze Worte zu bilden.
»Aber Mama, was ist denn los, nun lass doch â¦Â«
Krum versuchte vergeblich, sich aus ihrer Umklammerung zu lösen. Irgendwann lieà sie ihn von selbst los, verschluckte sich an ihren Tränen, wurde still wie ein geschlagenes Kind und â sackte auf dem Boden vor dem Bett zusammen.
»DrauÃen am Tor«, brachte sie nur heraus, »o Gott, drauÃen am Tor.«
Krum schlug die Decke zurück, schlüpfte in seine Pantoffeln, durchquerte das Wohnzimmer, in dem die Sonne Halt an den Quitten auf dem Vitrinenschrank suchte, lief â so, wie er war, im Pyjama â zur offenen AuÃenpforte und schaute sich um. Er bemerkte aber nichts AuÃergewöhnliches auÃer einem Spatz, der sich fesch aufgeplustert im Staub badete. Als er aber hinaustrat, konnte er sie nicht mehr übersehen, die Todesanzeigen. Es waren mehrere, ganz frisch gedruckt, und von der teuren Sorte. Darauf prangte â sein eigenes Bild. Unter einer der Anzeigen, der mit dem christlichen Kreuz oben, stand als Trauernde geschrieben: »Die Mutter«, auf der anderen, der mit dem fünfzackigen roten Stern: »Die Verwandten und Freunde«. Er las:
Â
Nach kurzer und schwerer Krankheit
ist unerwartet von uns gegangen
Krum Krumov Marijkin
1955â2002
Warum musstest du uns verlassen?
Unsere Herzen können es nicht fassen.
Wir können die Pfade des Schicksals nicht lenken.
Doch immer werden wir deiner gedenken.
Â
Entsetzt zuckte er zurück. Speichel sammelte sich in seinem Mund. Die Angst brodelte in ihm hoch, irreal wie eine plötzliche Sturmflut in der Wüste. Eiskalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Wie aus einem surrealistischen Film auch die Szene selbst: Ein Mann in Pyjama und Pantoffeln steht auf der StraÃe und starrt seine eigene Todesanzeige an. Schleunig machte er, dass er wieder ins Haus kam. Er gab seiner Mutter ein Beruhigungsmittel und bestand darauf, dass sie unter seinen Augen ihre Medikamente gegen Bluthochdruck nahm. In einem Anfall von Feierlichkeit kramte er seinen Anzug für offizielle Anlässe aus dem Schrank, zog sich an und verlieà das Haus. Die ganze Uferpromenade war gespickt mit seinen Todesanzeigen. Sie hingen überall, wo viele Menschen vorbeikamen, sogar auf dem Widiner Marktplatz und an der Stadtbibliothek, am Gebäude des ehemaligen Bezirkskomitees der Kommunistischen Partei und der mit poliertem Naturstein verkleideten Hauptgeschäftsstelle der Sparkasse.
Als er in die halbverlassene Porzellanfabrik kam, stellte sich ihm vor dem Lager mit der fertigen Produktion einer der wenigen verbliebenen Arbeiter in den Weg, ein Zigeuner mit pechschwarzem Haar und mehreren Goldzähnen. Er starrte Krum an, schluckte ein paarmal, stieà einen unartikulierten Laut aus und verschwand in der nahe gelegenen Toilette. Das Büro des Direktors betrat Krum, ohne anzuklopfen. Gergina Weleva saà am Schreibtisch über dem Musterbuch mit den Abbildungen Wiener und Prager Meister, das sein GroÃvater ebenfalls hinterlassen hatte. Ihre Augen waren feucht. Sie funkelten in dem jähen Sonnenstrahl, der durchs Oberlicht in den Raum blitzte. Licht und Trauer, das war sie. Hm, dachte Krum eigenartig berührt, und dann: Sie hat um mich geweint! Neben der toten Telefonanlage dampfte eine Tasse Kaffee, daneben lag die Tageszeitung Donaustimme , aufgeschlagen auf der Seite mit den Todesanzeigen. Auch von dort blickte er sich selbst entgegen. Gerginas Blick hob sich zu dem, der da eingetreten war, und füllte sich langsam mit ungläubigem Entsetzen. Krum dachte: So also schaut ein Mensch, der eine Fata Morgana sieht, oder Gespenster, oder einen Wiedergänger! Etwas daran gefiel ihm. Aber was? Ja, es war die Aufrichtigkeit, die in ihrer Trauer zum Ausdruck kam, und die durch die Absurdität der Lage von aller bloÃen Höflichkeit befreit war. Es durchrieselte ihn angenehm.
»Huch, Sie?« Mehr brachte sie nicht heraus.
»Ja, ich â¦Â« Seine Stimme zitterte vor Freude.
»Aber wie ⦠warum â¦Â«
»Weià auch nicht. Wache heute Morgen so auf und â¦Â«
»Wo? Wo sind Sie aufgewacht?«
»Na, wo schon? Im Bett natürlich. Ich dachte, ich höre eine Schiffssirene heulen; aber es war meine Mutter.«
»Also im Krankenhaus?« Gerginas Verblüffung wuchs, zugleich aber entrangen sich ihr unübersehbar tiefe
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