Seelenasche
Mechaniker, den alle nur Bai Dontscho nannten, hatte eine halbe Minute unter einer zwei Tonnen schweren Konstruktion gelegen â und hatte überlebt . Der Vorfall war ungeheuerlich und umgeben von einem Geflecht des Mysteriösen, das Jordan nicht aufgedröselt bekam. Die Maschine war an einem beweglichen Hebekran befestigt gewesen. Bai Dontscho hatte sich zur Endmontage darunter gelegt, um sie am Betonpostament zu befestigen. Plötzlich: Stromausfall! Die Seilwinde des Hebekrans rollt rasend schnell ab, das tonnenschwere Ungeheuer senkt sich auf Bai Dontscho nieder. Der Mann schwebt (oder vielmehr »klemmt«) zwischen Leben und Tod. Seine Ellbogen bohren sich in den Boden, sein Haar steht zu Berge. Im Nu sind Arbeiter zur Stelle, die die Maschine mit Klötzen abstützen und mit Keilen hochhebeln, bis der Verunglückte herauskriechen kann â¦
Jordan war erschüttert. Dieser »einfache Mann mit sozialistischem Bewusstsein«, schrieben die Abendnachrichten ganz im damaligen Schablonenstil, sei »bereit gewesen, sich zu opfern, sich selbst zu vergessen, um die teure Konstruktion zu retten!« Etwas an diesem gefeierten Wunder entzog sich aber Jordans Verständnis. Der Mann, schüttelte er voll Unverständnis den Kopf, hatte seinen als heldenhaft gepriesenen Kraftakt doch nicht aus eigenem Willen, aus Heldenmut vollbracht, sondern notgedrungen, aufgrund einer Panne!
Er nippte an seinem Kaffee, versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, stellte sich Neda in ihrer »Gruppe« vor. Vermutlich erzählte gerade einer, dass seine Tante gestorben war, und nun schämte er sich. Wieso? Weil er nicht über ihren Tod trauerte, wie die gute Sitte und das schlechte Gewissen es doch vorschrieben. Obwohl: »Nur meine Tante liebt mich!« Grischa weist ihn fragend darauf hin: »Wieso sprichst du im Präsens?« Der Neurotiker lächelt gequält. Neda schaut Grischa fragend an. Jetzt verkörpert er die verstorbene Tante! »Sie hat mir immer etwas SüÃes vorgesetzt, mir manchmal aus den Karten gelesen. Sie meinte, die Karten träfen es immer freitags.« Durch die Gruppe geht eine gerührte Bewegung. Heute ist Mittwoch, aber ihr charismatischer Psychotherapeut, ihrer aller platonische Liebe, trifft es auch mittwochs. Er sieht nachdenklich und fast schön aus mit seinen kurzsichtigen Augen, denen nichts verborgen bleibt. Seine Finger trommeln auf den Schreibtisch. Neda findet ihn zugleich zart und unangreifbar, physisch hilflos und allmächtig, und der diffuse Wunsch kommt in ihr auf, ihn zu durchschauen. Diese Leute hier, die zerbrochen sind an fremder Gleichgültigkeit und versackt in ihrer ungewollten Einsamkeit, brauchen ihn ⦠Jordan hingegen bedient die Gesunden und Selbstzufriedenen, unterhält sie, befreit sie aber nicht, weil er sie nicht seinem Charisma und seiner Liebe, sondern seiner Berühmtheit unterwirft. Seine Bemühungen sind ebenso dreist wie unnütz; es ist doch idiotisch, halb Fernsehbulgarien in eine »Gruppe« zu verwandeln. Das Schweigen Grischas ist schöpferisch, seine Geschwätzigkeit hingegen nur talentlos. Das Vermögen des Psychotherapeuten, seine Patienten von fixen Ideen zu befreien, ist eine Wissenschaft, während sein Runder Tisch nichts als ein Ergebnis von Organisation ist!
Organisation? Natürlich, Organisation! Das war die Offenbarung, die er in den Tiefen seines Unterbewussten gesucht hatte! Intuition, dein Name ist Ahnungslosigkeit! Die Sendung würde einschlagen wie eine Bombe, das wusste Jordan im selben Moment, in dem ihm dieses matte, abgenutzte Wort »Organisation« in den Sinn kam. Sofort begann er im Kopf, ein Konzept zu bauen. Er würde einen von Nedas Psychiatern einladen, einen Schriftsteller, der sich mit den »Problemen« der Arbeiterklasse befasste, einen Psychologie-Professor, einen Fabrikdirektor und vermutlich noch jemanden vom Militär.
Die Heldentat, so würde er seine Sendung anmoderieren, ist keine Pflicht, sondern eine extreme individuelle Wahl und moralisches Recht des Menschen. Sich selbst derart zu überwinden, dass man sich über seinen Selbsterhaltungstrieb erhebt, sich der Finsternis einer jahrtausendealten Biologie zum Trotz opfert, damit es vor anderen hell wird, oder eine Idee zu leben â dies ist Ausdruck des Fortschrittes der menschlichen Vernunft, der Vergeistigung der ganzen Menschheit. Wir hier am runden Tisch aber haben uns heute
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