Seelenasche

der Tauben, die um die benachbarten Kamine flatterten, ließ ihn sich dem Himmel verwandt und nahe fühlen, dem Vorfrühlingshimmel. Die Öde der linientreuen Zeitung und die triefende Weisheit der Aphorismen schläferten ihn ein. »Allein wie eine leere Flasche auf dem Tisch ohne Mensch dahinter …« Dieser Vers von Langston Hughes ging ihm durch und durch, wirkte so berauschend stark auf ihn, dass er erschauerte. Jordan starrte auf einen Punkt, ins Nichts. Bei diesen Ideenerwartungspausen schlief er gelegentlich ein. Nein, meist schlief er dabei ein.
    Was er brauchte, war der Opener für die richtige, die fesselnde Perspektive. Die Idee hatte ihm sein Chefredakteur hingeworfen, ohne es zu wissen. Dabei hatte Gospodinov auf diese besondere, scheißfreundliche Art gelächelt, als habe er soeben auf eine Zitrone gebissen. Jordan hatte augenblicklich Herzklopfen und Entlassungsängste bekommen.
    Â»Schau mal, Leidensgenosse, wir sind so beduselt von diesem ganzen Glasnost- und Perestrojka-Gequatsche, dass wir völlig vergessen haben: Es gibt sie, die Heldentat. Es reicht langsam mit dem Kritisieren, der Aufgebrachtheit und Lärmschlagerei; Zeit, dem Zuschauer mal wieder was Konstruktives zu bieten, ein bisschen Perspektive. Nicht wahr, du weißt, worauf ich hinauswill?«
    Statt zum Herzen griff Jordans Hand zum Schreibtisch. Er bat aber nicht um Baldrian. Das hätte seinen Chef beleidigt, denn Beschränktheit war empfindsam und ebenso leicht zu kränken wie Bescheidenheit. Mit wachsendem Entsetzen las Jordan die russischen Enthüllungsartikel in Noviy Mir , in der Literaturnaya Gazeta und in Ogonyok , tat im Klubrestaurant des Journalistenverbandes seine Erschütterung über die sibirischen Straflager kund, doch in seiner eigenen Sendung Runder Tisch vermied er es, über das neue Denken in der Sowjetunion, über Glasnost und Perestrojka zu sprechen. Erstens glaubte er nicht daran. Gorbatschow, der »von Gott auf der Stirn Gezeichnete«, wie Neda ihn nannte, war ungemein eitel, redete überladen und leer, änderte in der Praxis aber gar nichts. Zweitens wollte Jordan sich nicht in die Nesseln setzen für etwas, das noch gar nicht passiert war und vielleicht auch nicht passieren würde oder konnte. Mochten sie sich in den Cafés darüber in Begeisterung reden! Die Sache war zweischneidig, voller Ungewissheiten und – zunehmend gefährlich.
    Die Schwachsinnigkeit des »Systems« hatte das Fernsehen in ein Massenmedium der besonderen Art verwandelt. Die Leute glaubten ihm nicht. Sie trauten nur Beiträgen, die sich mit gesellschaftlich harmlosen Themen beschäftigten, und die Sendungen, die sie mit wirklichem Interesse schauten, behandelten heikle Fragen eher unterhaltsamer Natur. Längst hatten die Zuschauer aufgehört, der Propaganda zu folgen. Berieselt vom unaufhörlichen Zwangsoptimismus der Nachrichten, gingen die den Leuten irgendwann nur noch zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Eingefangen vom Bildschirm, weckte das wirklich Wichtige, gesellschaftlich Folgenreiche nur Misstrauen und Zweifel. Zu viele historische Siege waren von gefilmten Parteikongressen vermeldet worden. In ihrer pathetisch raschelnden Kunstblumen-Sterilität lösten derlei Meldungen bei ihnen nur noch Niedergeschlagenheit aus.
    Â»Historiker sind wenigstens erzählfreudig und können reden«, gelang es ihm zu sagen.
    Â»Schau mal, Weltschev«, fiel ihm der Chef ins Wort, »du kannst dir deine Historiker sonst wo hinstecken. Gestern auf der Sitzung des Zentralkomitees wurde klar und deutlich geäußert, dass wir Helden brauchen , und zwar hier und jetzt. Es geht um nichts weniger als um die zeitgenössische Persönlichkeit.«
    Kleinlaut sagte Jordan seinem Vorgesetzten die Sendung zu, dachte aber erst später darüber nach. Was zum Teufel sollte das sein, eine Heldentat? Auf die Spitze getriebene Eitelkeit? Verhängnisvolle Blödheit? Ein Gespür für die Unsterblichkeit des Augenblicks oder eine »Absage an die Freiheit«, wie sich Nedas Lieblings-Freudianer Grischa in Anlehnung an Fromm wohl ausgedrückt hätte? Und wozu sollte derlei gut sein? Kopfschmerzen waren die einzige Antwort.
    Sima hatte ein beeindruckendes Beispiel im Stahlwerk Kremikovzi aufgespürt. Am Morgen fuhren sie mit dem Ü-Wagen zum Werk hinaus, um dem Einspielfilm Authentizität zu verleihen. Die Sache war die: Ein