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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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ihn verliebt. Die Frauen, stell dir vor, machen ihm Platz in der Straßenbahn, im Rund-um-die-Uhr-Geschäft verkaufen sie ihm auch nach Mitternacht noch Alkohol, ein paar, die zu dumm sind für ihre Bewunderung, verprügeln ihn, andere tun so, als würden sie ihn nicht bemerken, was ja auch nur ein anderer Ausdruck besonderer Aufmerksamkeit ist, oder besser gesagt …«, Neda sah ihren Schwiegervater besorgt an, »… menschlicher Unterwerfung!«
    Â»Vielleicht braucht er mal so richtige Schmerzen?«
    Â»Leiden«, verbesserte ihn Neda, »aber die sind ja auch nur Teil der Liebe.«
    Assen hatte noch nie eine so diffuse und sinnlose Angst empfunden. Er kannte die Geheimnisse der Angst sehr wohl, ihre ganze gierige und allverschlingende Ungreifbarkeit bis hin zur nackten Überlebensangst. Ja, damals, in jenen Jahren hatte er sich mit der Angst angefreundet. Aber jetzt – das war anders. Die Seelenpein Nedas schien angereichert mit einer seltsamen Wollust. Masochismus war es nicht, vielmehr ein feines Gespür für die Unabwendbarkeit der Dinge, für eine Art leidend gewonnener Demut und die Erkenntnis, dass jeder Widerstand sinnlos war. Assen stand auf, umrundete den Tisch und nahm das Paket aus dem Sessel. Es war ein von Hand mit Spitzen gesäumtes Kleid, ein edles Stück, das er selbst aus dem Geschäft für Kunsthandwerk ausgewählt hatte. Das sanfte innere Leuchten des Stoffs hatte ihn angezogen, und es war ihm so vorgekommen, dass nur diese bleiche Farbe diese junge Frau angemessen kleiden könne. Am Kragen war mit einer Stecknadel ein Stück Papier befestigt, auf dem stand: »Alles Gute, Neda! Assen«.
    Sie faltete es auseinander, legte es sich an den Leib, betrachtete sich gleichsam im Kaminfeuer und sagte dann ohne jeden Ausdruck von Freude:
    Â»Es ist wirklich wundervoll, ich danke dir!« Sie huschte zu ihm und berührte seine Wangen mit ihren Lippen.
    Â»Und damit du weißt«, murmelte Assen unbeholfen, »von jetzt an werde ich donnerstags nicht mehr hier sein – versprochen!«
3
    Heute hatte Dessislava Einer flog übers Kuckucksnest gelesen. Das Buch beschrieb, wie die scheinbare Fürsorge um Menschen sich in eine höchst perfide Form der Gewalt verwandeln konnte; außerdem die Verrücktheit, die es bedeutete, frei zu sein. Es endete mit den Worten: »Viel zu lange bin ich fort gewesen.«
    Sie zog ihr olivgrünes Kostüm an und schminkte sich vor dem Spiegel, aber auf einmal packte sie die Wut und sie schmiss die Fetzen wieder hin, die sie zu einer »richtigen Frau« machten. Stattdessen stieg sie in ihre abgewetzten Jeans und ihren ausgeleierten Pullover, lief ins Bad zurück und wusch sich das Make-up wieder aus dem Gesicht. Von der eben noch »aufgetakelten« Schönheit blieb nichts übrig als der Charme der Bescheidenheit. Es war schon zehn vor drei, als sie ihre Folkloretasche vom Haken nahm, die sie für sündhafte dreißig Leva im Kunstgewerbeshop des Bulgarischen Künstlerverbandes gekauft hatte. Sie fürchtete, sich zu verspäten. Wovor sie aber eine geradezu erbarmungslose Angst hatte, das war – zu früh anzukommen! Vor der Prüfung mit Evtimov zusammenzuprallen oder gar mit Sotirov, dem Allmächtigen, das war der reine Wahnsinn. In letzter Zeit wimmerte sie im Schlaf. Die Einsamkeit, die sie in Simeons Gegenwart empfand, stürzte sie in solche Verzweiflung, dass sie die Proben schleifen ließ. Die meisten Szenen ihres Hamlet waren ja auch so gut wie fertig, wenn auch so fragil und exzentrisch wie ihr ganzes Leben. »Untätigkeit ist sehr inspirierend«, sagte sie sich melancholisch. »Sie ist der einzige Weg zur Vollendung der Ungeborenen und der Toten.«
    Sie nahm die Straßenbahnlinie 12 bis Hladilnika rauf, von dort würde sie in zehn Minuten ohne Eile zu Fuß den Zoo erreichen. Sie tauchte ein in das Menschengewimmel auf dem Platz, von dem die Busse nach Dragalevzi und Bistriza abfuhren, bog ab zur Limonaden- und Sprudelwasserfabrik, betrachtete sich im nächstbesten Schaufenster und beruhigte sich. Sie glich einer staksenden Stoffpuppe, deren Haar zu Berge stand, weil man ihr eine Punkerfrisur verpasst hatte. Ihr war schwindlig vor Frühjahrsmüdigkeit, der Linienbus, der an ihr vorbeibrummte, kam ihr vor wie eine riesige Schinkenwurst im Metalldarm, aber sie hatte nicht genug Vitamine zu sich genommen, um so richtig böse giften zu

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