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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Die Alten werden kindisch, die Jungen verhalten sich wie Rentner. Die Tage war ich beim Arzt. Der meinte, ich bin an allem erkrankt. Ach, und guten Fußball haben wir auch keinen mehr.«
    Â»Ein Teufelskreis«, erwiderte Emilia mehr zu sich selbst, als sie die Kappe vom Analgin-Gläschen entfernte und die beiden Tabletten herausschüttelte, die nicht viel größer als ein Fliegenschiss waren. »Wenn ich zu viel Kaffee trinke, bekomme ich Kopfschmerzen, und wenn ich weniger trinke, habe ich zu niedrigen Blutdruck. Also entweder Schwindelgefühle oder Migräne.«
    Â»Theater ist wie eine Frau«, meldete sich Sotirov versöhnlich, »mindestens die Hälfte von dem, was passiert, muss geheimnisvoll und verborgen bleiben, sonst ist es banal und uninteressant. Theoretisch ist alles möglich, sogar, dass es mit dem Theater vorbei ist.« Vor Anspannung lachte er kurz auf. Er war rundlich geworden und hatte Glatze bekommen, doch trotzdem wirkte er noch genauso flink und ungreifbar wie damals, als Assen ihn kennengelernt hatte. »Aber kommen wir zurück auf … auf … auf was eigentlich?«
    Â»Auf Dessi und auf Shakespeare«, half ihm Emilia.
    Â»Ah ja, richtig, Shakespeare … Das ist der einzige Dramatiker, den man nicht zu modernisieren versuchen sollte, weil er immer schon modern ist. Das Gegenteil ist angebracht: Die ideale Hamlet -Inszenierung stelle ich mir in einem richtigen Schloss vor, mit Schauspielern, die noch Gespür dafür haben, was es bedeutet, Thronfolger zu sein, was Zweifel, Geist und Einsamkeit sind. Was denkst du, Evtimov?«
    Sotirovs Assistent, jung neben ihm wirkend, elegant, mit der Narbe über der Oberlippe, erwachte aus seiner Versenkung und versuchte zu lächeln. Die Stille im Saal versteinerte, füllte sich mit Erwartung, so als wären alle sicher, dass der Vorhang sich erneut heben und der nächste Akt beginnen würde.
    Â»Es war beklemmend«, erwiderte Evtimov leise, »aber ich persönlich fand es sehr lehrreich. Mit diesem Mädchen geschieht etwas, in Dessislava muss sich irgendetwas ereignet haben!«
9
    Zerschlagen kehrte Assen heim. Er fühlte sich regelrecht verloren. Am Morgen, nach dem Scheidungstermin, hatte seine Tochter darauf bestanden, dass er und Emilia ihrer Prüfung beiwohnten. Nun peinigte ihn die vage Vermutung, dass sie unterbewusst die ganze Inszenierung ihretwegen so aufgezogen hatte, damit sie in Hamlets Zwiespalt ihre eigene Schuld erkannten. Er war von ihrem Protest tief enttäuscht und zugleich voller Bewunderung für ihre schamlose Radikalität. Dessislava hatte Shakespeares Stück verfehlt, war aber lebendig und außergewöhnlich. Ihre Inszenierung ging einem so an die Nieren, dass man sie nicht einfach so wegstecken konnte, sondern über ihren Sinn nachdenken musste. Er wollte in aller Ruhe mit ihr reden, nicht um sie zu trösten, sondern um sie zu verstehen.
    Das Appartement war leer. Assen machte sich einen Kaffee, ging ins Wohnzimmer und begann zu warten. Das Frühlingslicht strömte wie das eines Projektors durch das französische Fenster. Die vielen an den Wänden aufgehängten Antiquitäten vermittelten den Eindruck, man befände sich in einer Kulisse. Ja, ihre Wohnzimmereinrichtung glich einer Bühne, prächtig ausgestattet, mit Geschmack und einem sicheren Händchen für ein schlechtes Stück … Von Holzwürmern zerfressen und doch unvergänglich wie der menschliche Glaube, hingen die Ikonen so dicht, dass sie sich fast anrempelten. Aus den Möbeln mit den Perlmuttintarsien roch es nach gedämpftem, fremdem Leben. Er nahm seine Tasse und ging hinüber in jenes Zimmer, das, bevor Emilia und er sich getrennt hatten, ihm als Arbeitsraum gedient hatte. Er setzte sich hinter den mittlerweile von Dessislava mit Beschlag belegten Schreibtisch, auf dem wahllos verstreut Schminkdöschen lagen, die Zeitung Orbita , aufgeschlagen auf einer Seite mit einem Artikel über Schwarze Löcher, ein Kriminalroman von Agatha Christie, das Ägyptische Totenbuch, und in der Abdeckhaube der Schreibmaschine tummelten sich ein paar Stricknadeln und ein Knäuel dicker Wolle. In ein offen daliegendes Heft waren nur zwei Sätze gekritzelt: »Hamlet – Sichabfinden als Gewalttat. Werde ich zu dieser Radikalität vorstoßen?«
    Im Fenster erlosch langsam der Tag. Die Konturen des gegenüberliegenden Mietshauses wurden unscharf.

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