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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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tümpelgrüne Halbdunkel seines Büros bestellt, um ihm seine Popularität zu verzeihen, indem er sie kurzschloss mit seiner eigenen erhabenen Anonymität. Heute aber war es nicht das gewesen. Heute hatte ihn etwas anderes bewegt, die Intuition, dass Jordans strahlend-verbindliches Lächeln nicht mehr zündete, nicht mehr charmant, sondern nur noch langweilig war. Ja, der Erfolg, selbst das menschliche Glück brauchten, um zu dauern, den Wechsel, die Abwechslung. Mit einer Art gesichtslosen Blödheit wurde Jordan klar, dass er erledigt war, und darum war das, was Neda und Grischa da heute Abend wohl getan hatten, nicht mehr die Therapie eines sich selbst Entfremdeten, sondern die Anstrengung, einen Gesunden zu heilen. Sein Schmerz war so stark und verschlingend, dass er in ihrem Verständnis physisch und psychisch unerschütterlich sein musste. Ja, nun, wo man ihn total abserviert hatte, war er wie durch ein Wunder geheilt.
    Aus dem Hörer in seiner Hand kam ein durchgezogenes Tuten. Er musste ihn Minuten so gehalten haben in seiner idiotischen Gedankenverlorenheit. Von der unbequem vorgebeugten Körperhaltung tat ihm alles weh, mit seinem vorgereckten Hals sah er aus, als wolle er über einen Rand schauen – aber in was? Er kehrte zu seinem Glas zurück mit dem Gefühl, dass er nach Hause kam. Er musste in sich gehen. Einem winzigen Schluck ließ er im Flüsterton folgen: »Ich bin die Luft in diesem Raum, löse mich auf in der Stille.« Dann: »Ich bin das Dunkel über den Dächern, die Menschenleere über der Stadt; ich bin die Nacht.« Nun ein großer, großer Schluck: »Ich bin die Kälte, die die Erde abgefressen hat, der leere Raum zwischen den Sternen, ich bin das Nichts, ich bin das Skelett der Unendlichkeit.«
    Die Nummer lief nicht. Ein hart geprüfter Mensch betrinkt sich maßlos und schnell; die Egozentrik will nicht leiden. Jordan kam es so vor, als döse er ein, träume, er habe einen Heiligenschein, der sanft leuchtete. Er wollte sich die Aureole mit aller Kraft vom Kopf reißen und zerbrechen wie einen Teigring. Aber der Schein war immateriell und betörend. Jordan saß am Kopfende seines runden Tisches und schaute besorgt in den Monitor. Drei Millionen Menschen beobachteten ihn, atemlos. Sie mussten glauben: Gleich ist es so weit: Entweder reißt er sich den Kopf ab oder … oder er erfüllte ihre geheimen Erwartungen und verwandelte sich in den heiligen Messias.
    Das Knarren der Wohnungstür riss ihn aus seinen Meditationen. Reflexartig schaute er zur Wanduhr, die seine Oma ihm hinterlassen hatte. Jonka hatte geglaubt, solange deren Mechanismus noch arbeitete und der Zeit einen Pendelschlag gab, lebe sie noch und werde gebraucht. In der Tat belebt der Mensch die Gegenstände, mit denen er sich stark verbunden fühlt; er gibt ihnen Geschichte, gibt ihnen eine Zukunft, vor allem aber ein Stück seines Egoismus – darum überleben sie stets ihre Besitzer! Die Uhr tickte versunken vor sich hin, Jordan schluckte und erhob sich aus dem Sessel.
    Â»Hallo«, sagte er gedeckt, »wo warst du?«
    Â»Ich war in einem Film«, erwiderte Neda. Sie fühlte sich verpflichtet, ihn anzulügen, aber so, dass er ihr nicht glaubte. In diesem Sinne waren sowohl Neda als auch sein Chef von einer geradezu absurden, starrköpfigen Redlichkeit; ja, sie waren die einzigen moralisch unbefleckten menschlichen Wesen, die er kannte. Er spürte, wie der Schmerz ihm seinen Hammer auf die Brust donnerte, aber die Weisheit des konsumierten Alkohols hatte ihn paralysiert. Neda suchte sichtlich einen Anlass zum Streit. Es hatte nicht den geringsten Sinn, ihr von der kleinen Show zu erzählen, die sich im Büro seines Vorgesetzten abgespielt hatte. Es kam ihm rücksichtslos vor, seine Frau jetzt glücklich zu machen. Im Dämmer des Flurs leuchtete ihr Gesicht bläulich und kalt.
    Â»Gut«, sagte Jordan gefährlich leise, » mein Film fängt gleich an …«
18
    Im Eingang des Mietshauses roch es nach abgestandener Luft, nach Angedünstetem und nach Urin. Jordan schlüpfte hinaus auf die Straße und ging unbewusst auf sein Auto zu. Er hatte zwar nichts damit vor, wusste aber, dass der Motor noch warm sein und der Fahrgastraum nach Nedas Parfüm riechen würde. Symbolisch betrachtet, war ihr Lada so etwas wie ein kleines, bewegliches Zuhause. Er stieg ein, startete und fuhr los. Der

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