Seelenband
war zwar wach, doch die Angst hielt ihn noch immer gefangen.
Zitternd stand John auf und wankte zum Badezimmer. Er tastete mit der Hand an der Wand entlang, bis er endlich den Lichtschalter fand, und musste dann seine Augen gegen das grelle Licht zusammenkneifen. Halb blind drehte er am Wasserhahn und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann hob er langsam den Kopf und blickte in den über dem Waschbecken angebrachten Spiegel.
Er strauchelte und wäre beinahe gestürzt, als er sein Gesicht sah. Aus einem müden bleichen Gesicht starrten ihm zwei blutunterlaufene Augen in einem warmen Braunton entgegen.
Schockiert stolperte er rückwärts, bis er an den Hocker stieß, und ließ sich darauf fallen. Fassungslos vergrub John sein Gesicht in den Händen. Das durfte nicht wahr sein. Er spürte, wie Angst mit kalten Fingern nach seinem Herzen griff. Angst, Verwirrung ... und Einsamkeit. Noch niemals, noch nicht einmal, als Inara gestorben war, hatte er sich so allein gefühlt. Damals hatte er sie noch immer spüren können. Sein Schmerz, die Leere in seiner Seele, die sich in seinen Augen gespiegelt hatte, hatten sie für ihn real erhalten. Doch nun war sie endgültig fort. Und ihm kam es vor, als hätte er sie erneut verloren. Endgültig und aus eigenem Verschulden dieses Mal. Nun war er wirklich völlig allein.
Es war wegen Valerie, dämmerte es ihm plötzlich. Er hatte geglaubt, sie würde ihn heilen. Doch stattdessen hatte sie bloß den Schmerz verbannt, indem sie einen Teil seiner Seele, Inaras Teil, aus ihm herausgerissen hatte. Nur ihretwegen hatte er Inara unwiederbringlich verloren. Nur ihretwegen würde er für den Rest seines Lebens nichts weiter als seine immer blasser werdende Erinnerung an seine Frau haben. Sie hatte seine Verbindung zu Inara zerstört, obwohl sie nie ihren Platz würde einnehmen können, ihm nie das würde sein können, was Inara ihm gewesen war. Er hätte sich nie mit ihr einlassen dürfen, hätte seinem Instinkt vertrauen und den Kontakt zu ihr meiden sollen. Und nun war es zu spät.
Müde ließ John sich auf sein Bett fallen. Im Licht, das aus dem Badezimmer darauf fiel, starrte er seine Handgelenke an. Es überraschte ihn nicht, dass das Muster zu verblassen begann. Er hatte alles verloren, was ihm je etwas bedeutet hatte, wieso sollte es hierbei anders sein.
Lange Zeit fuhr er mit dem Finger das verschlungene Muster nach, das Inara für ihn darstellte: so elegant, so leicht, harmonisch und wunderschön, wie seine Seelengefährtin gewesen war und wie keine Frau jemals wieder für ihn würde sein können.
Kapitel 6
Am Sonntag hatte Valerie viel über John und darüber, wie verändert er in den letzten paar Tagen gewirkt hatte, nachgedacht und fragte sich insgeheim, welchen John sie am Montag antreffen würde: den düsteren, schweigsamen oder den neuen: den lebendigen, charmanten, zuweilen sogar fröhlichen. Es war, als hätte er zwei Persönlichkeiten, fiel es Valerie plötzlich auf und ein Schauer lief ihr den Rücken herunter. Was, wenn er ernstere psychische Probleme hatte, als sie bisher vermutet hatte?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, er hatte vor nicht einmal einem Jahr seine Frau verloren, die er abgöttisch geliebt hatte, da war es ganz verständlich, dass ihn die Lebensfreude verlassen hatte. Und es war ein sehr gutes Zeichen, dass er sie jetzt Stück für Stück langsam wiederfand.
Daher war sie am Montagmorgen ganz gespannt, als sie am
"Pablo"
eintraf. Doch ihre Neugier war unbegründet, denn er war nicht da. Von einem starken Déjà-vu beseelt, betrat Valerie verwundert das Café. Vielleicht war er ja noch drin, auch wenn sie nicht daran glaubte. Sie hatte Recht, John war nicht da. Dieses Mal verzichtete Valerie darauf, sich bei der blonden Kellnerin nach ihm zu erkundigen - viel würde es ohnehin nicht bringen - und huschte wieder zur Tür hinaus. Während sie schnellen Schrittes zur Arbeit ging, kämpfte in ihrer Brust die Wut über Johns unberechenbares Verhalten mit der Sorge, es könnte tatsächlich etwas nicht stimmen. Ihre Wut siegte. Sie hatte ihm für die Party am Samstag ihre Handynummer gegeben, falls ihm etwas dazwischen kommen sollte, er hätte sie also jederzeit anrufen können. Gut, er war ihr keine Rechenschaft schuldig, aber er hatte selbst gesagt, sie wären Freunde. Freunde behandelten einander nicht auf diese Weise.
Dieses Mal widerstand sie sogar dem Impuls, ihn auf der Arbeit anzurufen. Wenn er ihr etwas zu sagen hatte, sollte er sich selbst bei
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