Seelenband
John dem anderen Mann gefolgt und hatte in einem Obdachlosenheim Unterschlupf für die Nacht gefunden. In den nächsten Tagen hatte er sich wenig vom Heim entfernt und hatte versucht, Worte und Satzfetzen aufzuschnappen. Und dann hatte er die Bibliothek entdeckt. Dort hatte es eine große Kinderabteilung gegeben, mit Lerncomputern und allem, was dazu gehört. Sie war nicht besonders gut besucht gewesen und so ließ die Bibliothekarin den großen Mann in Ruhe, da er sich leise verhielt und sorgsam mit den Computern und den Büchern umzugehen schien. Nach ungefähr zwei Wochen konnte er sich schon einigermaßen, wenn auch holprig, verständigen und begann, nach einem Job zu suchen. Ein paar Tage lang hatte er in dem Obdachlosenheim, in dem er zu dem Zeitpunkt noch immer wohnte, ausgeholfen. Doch dann begann er Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und auch das wenige Kleingeld, das er dort verdiente, hatte Begehrlichkeiten geweckt. Schließlich fand er glücklicherweise den Job im
"Pablo"
. Irgendwie erinnerte er wohl den Besitzer, der in seiner Jugend selbst mittellos aus Italien eingewandert war, an sich selbst und er gab John eine Chance. Er hatte ihm sogar geholfen, seine Wohnung zu finden, und von da an waren die Dinge für John bergauf gegangen.
"Doch richtig zu leben habe ich erst wieder begonnen, als ich dich getroffen habe", sagte John ihr eines Tages im Anschluss an seine Erzählung, als sie gemütlich nach der Arbeit nach Hause schlenderten.
Valerie errötete und wandte den Kopf ab. Sie machte sich über ihre Gefühle für John keine Illusionen mehr, doch aus ihm wurde sie noch immer nicht schlau. Es gab Augenblicke wie diesen, wenn er ihre Hand hielt oder ihr tief in die Augen blickte, die ihr den Eindruck vermittelten, als würde auch er etwas für sie empfinden. Und doch hielt er jederzeit etwas vor ihr zurück. So häufig stockte er mitten im Satz und sie hatte das eigenartige Gefühl, dass er etwas ganz Anderes sagte als das, was er eigentlich hatte sagen wollen. Dann kamen ihr immer seine Worte in den Sinn, dass er noch nicht bereit für eine neue Beziehung war. Und sie musste ihm recht damit geben. Er war noch nicht soweit. Aber wenn er solch bedeutungsvolle Dinge sagte wie vorhin, dann stellte sie sich vor, er wäre es. Schließlich durfte ein Mädchen ja noch träumen.
"Was hast du eigentlich am Sonntag vor?" fragte John sie plötzlich.
"Am Sonntag?" Valerie sah ihn überrascht an. An Wochenenden trafen sie sich normalerweise nicht. "Wieso?"
"Vielleicht können wir ja spazieren gehen."
Valerie lächelte. Er ging sehr gerne spazieren. Irgendwie schien das die einzige Zerstreuung zu sein, die er sich neben dem Lesen gönnte. Vermutlich, weil er kein Geld dafür ausgeben musste. Sie kannte niemanden, der so genügsam und sparsam lebte wie er. John hatte keinen Fernseher, keinen Computer und nur das einfachste Pre-Paid-Handy, mit dem er nie telefonierte. Er hatte kein Auto und ging nie aus. Aber wofür er so sorgsam sparte, verriet er ihr nicht.
"Musst du am Sonntag nicht arbeiten?" fragte sie zurück.
"Doch, natürlich. Aber wir könnten mittags eine kleine Runde drehen." Er sah sie erwartungsvoll an.
Valerie zögerte. Es war nicht wirklich gut für sie, ihn jeden Tag zu sehen. Denn jedes Mal, wenn sie sich trennten, vermisste sie ihn ein wenig mehr. Aber sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. Und sie hatte ohnehin nichts Besseres vor. Ihre Eltern hatten sie über das Wochenende besuchen wollen, doch ihr Vater hatte eine starke Erkältung und so hatten sie den Besuch verschoben. "Also gut", sagte sie schließlich. "Ich hole dich dann beim
"Pablo"
ab."
John nickte zufrieden, wenn auch ein wenig nervös. Er wusste, dass er ihr allmählich die Wahrheit sagen musste, oder zumindest einen Teil, einen äußerst wichtigen Teil. Er hätte es ihr eigentlich schon viel früher sagen müssen. Aber es war so schön, einfach nur John und Valerie zu sein, miteinander zu reden und sich näher kennen zu lernen.
Oh ja, denn sie kennt dich wirklich gut, sagte eine zynische Stimme in seinem Kopf. Er seufzte, es wurde wirklich Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen, bevor sie sie zu sehr verletzen würde.
Am Sonntag stand John vor dem
"Pablo"
und wartete nervös auf Valeries Erscheinen. Obwohl er sich schon seit Tagen den Kopf darüber zerbrach, wie er es ihr sagen sollte, hatte er die richtigen Worte noch immer nicht gefunden. Nervös trommelte er mit den Fingern gegen sein Bein. Was, wenn sie es nicht verstand? Was, wenn
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