Seelenband
ihre.
Sie zuckte bei der Berührung leicht zusammen und sah ihn mit großen Augen an.
"Ich weiß aber", fuhr John leise fort, "dass ich nicht länger dagegen ankämpfen kann."
Valerie schluckte und erhob sich rasch, um ihre leere Teetasse in die Küche zu bringen. Sie hasste es, dass ihr Herz so wild pochte. Er hatte es bestimmt nicht so gemeint, wie es sich für sie angehört hatte: dass
sie
plötzlich der Grund dafür sein sollte, dass er über den Tod seiner Frau hinweg kam.
John spürte, dass sie sich unwohl fühlte, und wechselte daher das Thema, als sie wieder ins Wohnzimmer kam. "Ich habe eine neue Wohnung gefunden", erzählte er ihr.
"Wirklich, wo denn?" fragte Valerie und drehte das Licht heller auf. Das war viel unverfänglicher, als das gedämpfte Strahlen ihrer Leselampe.
"Nur ein paar Blocks von hier."
"Wann ziehst du um?"
"Oh, das wird noch ein oder zwei Wochen dauern, ich muss sie noch renovieren."
"Brauchst du Hilfe?"
"Danke, aber das ist nicht nötig. Du kannst dann gern zur Einweihungsfeier kommen", schlug er ihr schnell vor, als er ihre Enttäuschung über die abgelehnte Hilfe bemerkte.
"Wirklich?" Sie verstummte verlegen, als ihr auffiel, wie erfreut sie klang.
"Sicher. Ich freue mich schon darauf. Aber jetzt lasse ich dich lieber schlafen", fügte er mit einem leichten Lächeln hinzu, als sie tapfer versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
"Wir sehen uns dann morgen?" fragte sie vorsichtshalber nach und erhob sich, um ihn zur Tür zu bringen.
"Aber sicher doch. Gute Nacht." Er drückte die Türklinke herunter. Und dann plötzlich beugte er sich schnell zu ihr herüber und streifte ihre Wange mit seinen Lippen. "Schlaf schön, Valerie", flüsterte er und ging hinaus.
"Nacht", flüsterte Valerie ihm völlig durcheinander hinterher.
Johns guter Wunsch ging in dieser Nacht nicht in Erfüllung, denn Valerie lag lange wach und durchlebte in Gedanken jede Geste, jeden Blick und jede Berührung, die John an diesem Abend gemacht hatte. Er hatte sich definitiv verändert. Er war wieder dieser unwiderstehliche Mann gewesen, den sie am Samstag zum ersten Mal wirklich kennen gelernt hatte. Er war so anders als am Anfang ihrer Bekanntschaft, so lebendig, so echt, dass es ihr Angst machte. Sie wusste nicht genau, welche Absichten er ihr gegenüber verfolgte. Aber sie fühlte sich wider alle Vernunft definitiv zu ihm hingezogen. Und wenn er sich auch weiterhin ihr gegenüber so benahm wie an diesem Abend, dann würde sie, hilflos wie eine Motte zum Licht, zu ihm gezogen. Zu einem Mann, der noch immer um seine tote Frau trauerte und der für eine neue Beziehung noch lange nicht bereit war, selbst wenn er danach streben sollte.
Valerie seufzte und drehte sich auf die Seite. Trotz seines Versprechens war sie sehr gespannt, ob sie ihn morgen tatsächlich sehen und welches Gesicht er ihr dann zeigen würde.
Am nächsten Morgen wartete er tatsächlich vor dem
"Pablo"
auf sie. Er begrüßte sie mit diesem freudigen kleinen Lächeln, das er ihr neuerdings schenkte, und war auch so erstaunlich gut gelaunt. Am Tag danach kam er sogar in der Mittagspause zu ihr und schlug ihr vor, das mittlerweile selten gute Wetter für einen Spaziergang zu nutzen. Am dritten Tag hatte Valerie sich an seine neue Art bereits schon so gewöhnt, dass ihre Angst, er könnte wieder in seine depressiven Verhaltensweisen zurückfallen, allmählich verging. Er erzählte ihr viel über sein Leben mit Inara, kleine alltägliche Dinge, die seine warmen goldbraunen Augen zwar mit Tränen füllten und seiner Stimme einen sehnsüchtigen Klang verliehen, seine Seele jedoch nicht dauerhaft beschwerten. Er hatte endlich den gesunden Heilungsprozess eingeleitet und die Gespräche mit Valerie halfen ihm dabei. Sie hörte ihm geduldig und aufmerksam zu und er drückte dankbar ihre Hand, die er beim Gehen nun oft in der seinen hielt. Im Gegenzug erzählte sie ihm von ihrer Kindheit und ihren Eltern und hörte selbst mit einer Mischung aus Faszination und Mitgefühl hin, wenn er ihr von seinen ersten Wochen in der Stadt erzählte. Er hatte anscheinend wirklich gar nichts gehabt, als er eintraf. Wie genau er eingereist war, darüber schwieg er beharrlich, aber es war im Winter gewesen. Er hatte kein Geld, keine Papiere gehabt und konnte noch nicht einmal bruchstückhaft die Sprache. Die erste Nacht hatte er im Bahnhof verbracht, bis ein Polizist ihn und einen anderen Obdachlosen weggescheucht hatte. Da er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen, war
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