Seelenbrand (German Edition)
sich Marie mit einem Schrei die Hände vor die Augen schlug.
Am Grund des tiefen Lochs lag eine, in eine Soutane gekleidete Person mit verdrehten Gliedern und dem Gesicht nach unten.
Marie begann zu schluchzen und ließ sich weinend auf die Knie sinken.
»Das ist wahrscheinlich euer verschwundener Aushilfspfarrer«, flüsterte Pierre mit versteinerter Miene und starrte auf den leblosen Körper hinunter.
»Wie kann Gott so etwas nur zulassen?« weinte sie und ihr ganzer Körper begann zu zittern. »Wie kann er nur so grausam sein und diesen frommen Menschen hier unten ... auf diese Weise ... umkommen lassen?« Ihr Schluchzen war herzzerreißend.
»Er war doch schließlich einer seiner Diener!«
»Kommen Sie!« Pierre bewahrte nur mit Mühe seine Fassung. Eine solche Schweinerei hatte er auch noch nicht gesehen. Er half Marie mit festem Griff auf. »Wir können hier nichts mehr für ihn tun.«
Sie zitterte am ganzen Leib, als er sie zur Treppe führte. »Sagen Sie mir, Sie sind doch auch ein Pfarrer ...«, sie sah ihn mit verweinten Augen an, »... wie kann Gott so etwas nur zulassen?« Die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Das ist doch grausam und ... ungerecht!«
Stufe um Stufe, Wendel um Wendel quälten sie sich die Treppe herauf, bis sie sich endlich – nach einer Ewigkeit – durch die zerschlagene Rückwand des Schranks aus dem Gang zwängen konnten.
»Hier! Trinken Sie das!« Pierre angelte in einer seiner zahlreichen Taschen, während er Marie in die Kirche führte und sie in die erste Bankreihe niedersetzte. Direkt unter die Augen von Maria Magdalena.
Ohne zu zögern griff sie nach dem Fläschchen, das er ihr unter die Nase hielt und nahm einen großen Schluck. Als die Flüssigkeit ihren Hals hinunterlief, riß sie ihre Augen weit auf, hustete und hielt sich die Hand vor die Brust. »Ist das etwa Alkohol?« rief sie entsetzt und rang nach Luft.
»Geben Sie her, ich brauche auch einen!« Genüßlich ließ er sich unter ihren verstörten Blicken das Feuerwasser durch den Mund gleiten. »Das ist Cognac, wenn Sie es genau wissen wollen!« Er schloß genießerisch die Augen, als ihm der gute Tropfen langsam die Gurgel herunterlief.
» Sie trinken Cognac?« fragte sie fassungslos.
»Nehmen Sie auch noch einen!« Er hielt ihr das Glasfläschchen hin. »Sie sind ja immer noch ganz grün um die Nase!«
»Und das Zeug hilft dagegen?« zögerlich griff sie nach seinem Seelentröster.
»Wenn ich’s Ihnen doch sage! Ich würde Sie doch nicht belügen!«
»Na gut! Aber nur einen kleinen Schluck!«
Junge, wenn das ein kleiner war, möchte ich nicht wissen, was bei ihr ein großer Schluck ist! Pierre setzte sich neben sie auf die Bank und betrachtete schweigend den vor ihnen stehenden Altar. Nach ihrem kräftigen Zug rang sie erst einmal nach Luft und hustete.
»Dürfen Sie als Pfarrer überhaupt Alkohol trinken?« fragte sie ungeniert, als sich ihre Innereien wieder beruhigt hatten.
»Wissen Sie ... es gibt Augenblicke ...«, antwortete er monoton, ohne seinen Blick vom Altar abzuwenden.
»Ist das denn keine Sünde, wenn Sie ...«, versuchte sie nachzuhaken, als er sie unterbrach.
»Schöner Schlamassel da unten. Das hat uns noch gefehlt. Ein Toter!« Er schien sich gerade in einer ganz anderen Welt aufzuhalten.
Marie hielt ihm wortlos das Fläschchen hin.
»Nein Danke!« Lächelnd sah er sich zu ihr um. »Ich fürchte, das hilft uns jetzt auch nicht weiter.« Sorgenvoll schüttelte er den Kopf. »Wenn die Leute herausfinden, daß unter ihren Füßen ein toter Pfarrer liegt, während sie mit mir da oben das Vaterunser beten ... dann wird sich die nächsten hundert Jahre niemand mehr in der Kirche blicken lassen. Und all die Mühe war umsonst!« Er fuhr sich schnaufend durch die Haare. »Und ich hätte versagt.«
»Aber warum? Sie können doch nichts dafür, daß ...«, sie suchte vorsichtig nach den richtigen Worten, »... da unten ein toter Mensch liegt.«
»Es ist nicht irgendein Mensch. Es ist ein Pfarrer! Einer von den Guten! Das stellt uns vor ein ganz anderes Problem!«
»Warum? Das verstehe ich nicht?«
Pierre drehte sich zu ihr um. »Ich will es Ihnen einmal ganz einfach erklären. Stellen Sie sich vor: Eine friedlich grasende Schafherde erfährt plötzlich, daß ihr Schäfer, der sie eigentlich vor dem Bösen – na, sagen wir dem Wolf – beschützen sollte, so schwach und wehrlos war, daß ihn der Wolf einfach mit Haut und Haaren gefressen hat. Würde die ganze Herde nicht in
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