Seelenbrand (German Edition)
wilder Panik und in Todesangst auseinanderrennen und sich in alle Winde zerstreuen, weil sie sich schutzlos fühlte?«
»Glauben Sie, daß ...«, sie sprach jetzt ganz leise, »... daß der Teufel ihn umgebracht hat?«
»Der einzige Beleg – und das habe ich schon hunderte Male erlebt –, der in diesen Fällen für die Anwesenheit des Teufels spricht, ist die Begierde der Menschen, ihn am Werk zu sehen.« Er schüttelte den Kopf, ohne seinen Blick vom Altar abzuwenden. »Nein, nein, dieser arme Kerl hat sich wohl ohne fremde Hilfe den Hals gebrochen. Wenn er Glück hatte, dann war es nur ein Bein ... aber wenn ich es mir recht überlege ... das hätte ihm auch nicht das Leben gerettet. Wer hätte ihm denn da wieder raushelfen sollen? Die Ratten?«
»Das ist ja furchtbar«, schluchzte Marie und nahm schnell einen Schluck aus dem Fläschchen. »Dieser arme Mensch!« Die Tränen rannen ihr wieder über die Wangen. »Warum hat ihm Gott denn nicht geholfen? Er war doch ein Geistlicher?«
»Meinen Sie etwa, wir hätten da oben einen Bonus?« Verbittert drehte er sich zu ihr um und zeigte in den Himmel. »Nur weil wir dieses schwarze Gewand tragen und ihn hier unten gewissermaßen ... vertreten?«
»Eigentlich dachte ich ... ja!« schluchzte sie.
»Ich hab’ das auch mal geglaubt.« Deprimiert wandte er sich wieder dem Altar zu. »Was meinen Sie, wie oft ich mich gefragt habe, warum ich das alles überhaupt mache? Für wen? Bei meiner letzten Stelle mußte ich ständig zwischen zwei Pfarreien hin-und herrennen.« Er blickte gedankenversunken nach vorn und begann monoton zu erzählen. »In den Bergen ... ob Regen, Sturm, Hagel oder Schnee ... der Pfarrer kommt ja immer ... Er muß kommen. Egal was es kostet! Er muß !«
Er wandte sich zu ihr um. »Glauben Sie, es hätte mich jemals einer gefragt, wie es mir geht?« Er nahm ihr die Flasche aus der Hand. »Geben Sie mir auch noch einen!« Gierig stürzte er einen großen Schluck hinunter. »Tag und Nacht war ich für die Leute da. Was meinen Sie, welche Zeiten sich die Menschen zum Sterben aussuchen ...« Er schüttelte den Kopf. »Und dann mitten in der Nacht bei Eis und Schnee durch die Berge ins Nachbardorf.« Er schwieg einen Moment. »Da ist es doch nicht verwunderlich, wenn man sich eines Tages fragt, warum man das alles tut?«
»Für Ihren Glauben?« versuchte Marie vorsichtig zu trösten.
Er sah sie verbittert an. »Dieser Glauben hat mir als Dank eine derartige Lungenentzündung verpaßt – und das nach all dem, was ich für die Leute getan habe –, die mich fast vorzeitig in dieGrube gebracht hätte. Wie meinen armen Mitstreiter da unten. Glauben Sie nicht, daß man sich in solchen Situationen dann auch als Geistlicher fragt, ob man nicht wenigstens mit ein bißchen Wohlwollen von da oben rechnen könnte? Wenn es schon keine Wunder gibt ... ein bißchen Unterstützung von ihm würde uns doch auch schon helfen!« Er seufzte.
»Und wenn mich ein Mensch, wie Sie, fragte«, er wandte sich an Marie und gab ihr den Cognac zurück, »warum die Dinge so grausam sind, dann hab’ ich immer nur antworten können: ›Die Wege des Herrn sind unergründlich!‹ In den meisten Fällen reichte das aus, und das arme Schaf ging mit hängendem Kopf nach Haus.« Verbittert mußte er lachen. »In besonders schweren Fällen, wenn die Leute vom Schicksal förmlich zerrissen worden waren, so daß sich auch Unbeteiligte fragten, wo denn die von mir versprochene Gnade Gottes gewesen wäre, dann kamen sie zu mir. Was sollte ausgerechnet ich ihnen dann sagen? ›Das ist eine Prüfung Gottes. Trage sie mit Würde und Demut!‹« Er sah sie an und lachte nochmals. »Das war alles, was ich als Antwort auf all die Fragen und Nöte der Menschen hatte. Mit den zehn Geboten konnte ich die meisten Leute zwar im Griff halten, aber wenn ihnen etwas Schicksalhaftes zustieß, und sie dann zu mir kamen, um mich zu fragen, wie Gott das zulassen konnte, dann konnte ich ihnen darauf keine Antwort geben. ›Gehe in dich und prüfe dein Gewissen, erforsche die Tiefen deiner Seele und erkenne, daß du dich gegen die Gebote Gottes versündigt hast. Tue Buße und sündige nicht mehr!‹ Das war’s.« Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Stellen Sie sich das mal vor! Statt den Leuten zu helfen und sie zu trösten, machen wir sie selbst für die Schicksalsschläge verantwortlich, unter denen sie zu leiden haben. Gnade können wir ihnen nicht versprechen, wohl aber den Zorn Gottes. Wir haben
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