Seelenbrand (German Edition)
angenehmer, als diese bleierne Stille, die sie umgab. Im Lampenschein tauchten endlich die letzten Treppenstufen auf.
»Gleich sind wir unten!« rief er durch seinen hochgestellten Kragen und blieb auf der letzten Stufe plötzlich stehen. »Wir sind tatsächlich wieder in einer Kammer!« Er hob seine Laterne und leuchtete in alle Richtungen. »Nein es ist sogar eine Halle!« Der Boden unter seinen Füßen war sandig, als er vorsichtig einen Schritt nach vorne machte. »Sehen Sie sich das an, Marie!« schnaufte er hinter seinem Kragen.
»All diese Särge! Wir sind in einer Krypta!« jauchzte sie und riß sich vor Begeisterung das lavendelgetränkte Taschentuch von der Nase. Sie rannte zu den Sarkophagen hinüber, die überall in Nischen und Ecken standen. »Ich kann sie gar nicht alle zählen! Hier ist noch einer!«
Es war kaum möglich, die Ausmaße dieser Begräbnisstätte mit der flackernden Laterne auszuleuchten. Überall gab es andere kleine Krypten, die kreisförmig um die Haupthalle angeordnet waren. Die steinernen Särge waren von atemberaubender Größe und Höhe. Der, vor dem er gerade stand, reichte ihm ohne Schwierigkeiten bis zur Brust und war über und über mit Zeichen, Verzierungen und Inschriften überzogen.
»Hierher!« rief Marie von irgendwo. »Ich brauche mehr Licht!« Langsam schritt Pierre durch die Reihen der steinernen Monumente in den hinteren Bereich der Krypta, aus der er ihre Stimme vernommen hatte. »Wenn Sie glauben, daß die da vorne interessant sind ...«, rief sie ihm zu, als sie das Licht näher kommen sah, »... dann sehen Sie sich das hier mal an!« Sie stand inmitten einer Gruppe von Sarkophagen, auf deren Deckel Personen zu liegen schienen. »Kommen Sie mit dem Licht hierher!«
Sie kniete an der Seite eines dieser steinernen Ungetüme und wischte mit ihrem Ärmel an der Außenseite herum. Als er herantrat, erfaßte der Schein der Laterne das lebensgroße Abbild eines Ritters, der mit geschlossenen Augen und in voller Rüstung auf dem Deckel des Steinsarges ruhte. Seine Hände, die auf der Brust zusammengelegt waren, umschlossen den Griff eines Schwertes. Ein massiges Schild, das die linke Körperseite von der Schulter bis zum Knie verdeckte, war ebenso kunstvoll aus dem Block gemeißelt worden, wie das Kettenhemd, das seinen Kopf – mit Ausnahme des Gesichts –, den Oberkörper und die Arme umschloß. Darüber trug er ein wallendes Gewand, das in zahllosen Falten bis zu den Füßen herunterreichte, zusammengerafft durch einen breiten Gürtel in der Taille.
»Das ist ja phantastisch!« murmelte er, als er mit spitzen Fingern über das glattpolierte Gesicht der Figur fuhr. Er hob seine Laterne und leuchtete zu den anderen Särgen hinüber, auf denen – genau wie hier – Ritter in voller Rüstung lagen. »So als wären sie gerade erst gestorben.« Ehrfurchtsvoll betastete ernochmals das Gesicht des wie in den Schlaf gefallenen Mannes. »Er sieht aus, als würde er sich gleich erheben«, sagte er leise zu Marie.
»Haben Sie das Wappen auf seiner Brust gesehen? Das Tatzenkreuz?« Emsig kratzte sie weiter an der Außenwand des Sarges. Das Taschentuch hatte sie schon beiseitegelegt.
Pierre nickte. »Genau so habe ich sie mir immer vorgestellt.«
Wie oft hatte er im Wartesaal vor dem Amtszimmer des Bischofs gesessen und zu diesem monumentalen Ölbildnis hinübergesehen, auf dem die Tempelritter in ihren weißen, wallenden Umhängen und dem blutroten Kreuz auf der Brust, Jerusalem aus den Klauen der Heiden befreiten. Das damals war nur ein Bild, aber hier – es lief ihm ein Schauer der Ehrfurcht über den Rücken – stand er vor dem Grab eines leibhaftigen Ritters des Templerordens, der für die Christenheit – ja vielleicht sogar für ihn – sein Leben gelassen hatte.
Marie erhob sich und wischte sich die Hände an ihrer Hose ab. »Ich glaube ...«, sie schnüffelte in die Luft, »... man kann sich an diesen Gestank gewöhnen.«
Natürlich! Ihre Neugier war stärker als alles andere. Dieses weibische Taschentuch behinderte sie nur bei ihrem emsigen Tun.
»Als Archäologe darf man nicht so zimperlich sein«, verkündete sie überzeugt und wandte sich wieder ihrer Kratzerei am Sarg zu.
»Vielleicht wissen Sie es ja schon ...«, sie sah zu ihm hoch, »... unten im Tal liegt die alte Pilgerstraße nach Santiago de Compostella in Spanien. Sie schlängelt sich genau zwischen den alten Burgen und Ordenshäusern hindurch. Rennes war umgeben von ihren Niederlassungen.« Sie
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