Seelenbrand (German Edition)

würde sie ihn garantiert für verrückt erklären. Doch bevor er ihr verraten konnte, was er entdeckt hatte, mußte er sich erst selbst Gewißheit verschaffen. Es war einfach zu ungeheuerlich! Gespannt kniete er sich vor da Vincis Werk nieder und zog die beiden Laternen heran. Natürlich war es nicht das Original, aber das war für seine Entdeckung auch gar nicht wichtig. Er sah auf das Holztäfelchen hinunter.
    Leonardo da Vinci, A BENDMAHL ,
1495-97, Öl-Tempera-Mischung auf Kalk, 460 x 880 cm,
Mailand, Refektorium in S. Maria delle Grazie
    Das Original war eine riesige Wandmalerei – das wußte jeder – und dieses hier war nur eine wertlose Kopie in Öl. Daher kam es dem alten Abbé wohl nicht auf den sammlerischen Wert seiner Gemälde an, sondern darauf, was sie zeigten: das letzte gemeinsame Abendmahl von Jesus und seinen Aposteln. Er ging mit seiner Nase ganz dicht heran ...
    Ja! Hier ist wieder dieses Zeichen ... genau wie bei den anderen! Es sah aus wie eine Kritzelei, die der alte Saunière auf der Ölfarbe hinterlassen hatte. Sie hatte immer dasselbe Muster. Sieht aus wie ... ja ... eine römische Zwei. Zwei senkrecht nebeneinander stehende Säulen mit ein paar Schnörkeln dran ...
    Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eines dieser Zeichen war immer über den Kopf von Jesus gekritzelt. Das war bei jedem Bild so, das er näher betrachtet hatte. Das zweite Zeichen war immer an einer anderen Stelle, und zwar über dem Kopf eines seiner Jünger. Er kroch auf dem Boden zurück zu Tintoretto und Justus von Gent. Ein Zeichen über dem Kopf von Jesus ... und das andere ... sein Blick sprang zwischen beiden Werken hin und her ... da ... schwebt deutlich über dem Kopf eines seiner Jünger, genau wie ... hastig rutschte er zu da Vinci zurück ... ja ... genau wie hier!
    Wenn ich recht habe ... er erhob sich von seinen Knien undwählte zufällig ein etwas höher angebrachtes Werk ... dann müßten die Zeichen auf diesem Bild genau so angebracht sein, wie auf den anderen. Er stockte, als das Licht der Laterne das Gemälde aus der Finsternis holte und leuchtete hektisch nach dem kleinen Holztäfelchen.
    Pietro Perugino,
C HRISTUS ÜBERGIBT P ETRUS DIE S CHLÜSSEL ZUM H IMMELREICH ,
1481, Fresko, 335 x 550 cm, Rom, Vatican, Capella Sixtina
    Ach, dieses hier ist ja gar keine Abendmahlszene, so wie die anderen, aber ... er kniff seine Augen zusammen ... es ist aber wieder eine Darstellung von Jesus ... und hier ... seinen Aposteln! Und wieder ist über dem Kopf des Herrn dieses Zeichen – das ich doch von irgendwoher kenne – und ... über einem seiner zwölf Jünger ... genau hier ... schwebt das Gegenstück dazu.
    Stille! Sein Herz pochte und kleine Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Sein Atem stockte. Das gibt’s doch gar nicht! Er rieb sich die Augen und sah erneut auf die Zeichen. Entweder bin ich verrückt, oder ... er traute sich kaum weiterzudenken ... oder die Personen unter diesen Zeichen sind identisch!
    Wie von einem höllischen Fausthieb getroffen, setzte er sich betäubt auf den steinernen Boden und starrte zum Kristall hinauf. Ein feiner Lichtstrahl fiel durch die kleine Öffnung in der Decke und wurde auf magische Weise durch die gläserne Kugel, die die Öffnung verschloß, in einen leuchtenden Finger verzaubert, der wie durch Zufall auf Dierick Bouts A BENDMAHLSALTAR fiel.
    Pierre rutschte mit einer Laterne zu jenem Bildnis hinüber und erhob sich langsam vom Boden. Der geisterhafte Finger aus Licht ließ die Farben auf wundersame Weise erglühen und die Gesichter der anwesenden Jünger und das Antlitz ihres Herrn aufleuchten. Der da! Aufgeregt tippte Pierre mit seinem Finger auf das Bild. Der da sieht genauso aus wie ... Jesus! Und über ihm wieder dieses Zeichen. Natürlich! Er schlug sich gegen die Stirn. Das ist das Zeichen der Zwillinge! Diese verschnörkelte römische Zwei ... ist in Wirklichkeit ein Sternkreiszeichen! Der Alte hat es benutzt, um ein Zwillingspaar auf diesen Bildern zu markieren! Jesus und seinen Zwilling! Pierre schüttelte den Kopf. Aber ... das kann doch nicht wahr sein ... daß auf all diesen Gemälden hier ... Jesus und sein Zwillingsbruder zu sehen sein soll!
    Seine Gedanken rasten in wilder Fahrt durch Himmel und Hölle. Aber ... diese Bilder hat der alte Saunière doch offensichtlich nicht selbst gemalt – etwa, um seine Wahnsinnsidee von den Jesuszwillingen in alle Welt zu verbreiten –, denn dieser Ölschinken hier stammt doch von ... er sah