Seelenbrand (German Edition)
verfolgen ... um seines eigenenSeelenfriedens willen ... er mußte einfach weitermachen.
Hatte Jesus tatsächlich einen Zwillingsbruder? War es das, was ihnen der Alte mitteilen wollte?
Gequält von seinen Gedanken und der tiefen Sorge, daß sich seine Befürchtungen tatsächlich bestätigten könnten, ging er langsam in Richtung Pfarrhaus zurück, aus dessen Küchenfenster das Geklapper von Geschirr und Töpfen drang. Gott sei Dank! Marie war noch beschäftigt. Er durchschritt den Torbogen zum Garten und schlenderte den weißgekiesten Weg am Brunnen vorbei. Der prachtvolle Pavillon lag in der Morgensonne und die Vögel zwitscherten. Niemand konnte erahnen, daß hier unter seinen Füßen seit Jahrhunderten ein Geheimnis eingekerkert war, das nach seiner Befreiung ... ewige Finsternis über die Menschheit werfen konnte. Er ließ die Orangerie zu seiner Rechten liegen und ging, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, zum Bücherturm, der Tour Magdala, hinüber, wie ihn der Alte getauft hatte.
Die Tür stand wegen des modrigen Gestanks immer noch offen. Da sie die sterblichen Überreste des Aushilfspfarrers während ihrer kleinen Zeremonie in der Krypta nun aber endlich mit Erde bedeckt hatten, war es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis der warme Sommerwind das Gemäuer von seinem fauligen Schleier befreien würde. Er hielt sich nicht länger im unteren Stockwerk zwischen diesen Unmengen von verstaubten Büchern auf, sondern nahm sich gleich die zwei Laternen vom Tisch und bog, nachdem er sie angezündet hatte, um die Ecke in den engen Treppenaufgang ab.
Die Ansammlung der Bilder in diesem, mit schwarzem Tuch verhängten Kerker, war zwar ungewöhnlich, er hatte sie aber bislang nur der Sammelleidenschaft seines Vorgängers zugeschrieben.
Geduckt zwängte er sich die enge Stiege hinauf, die eine Laterne vor, die andere hinter seinem Körper verschränkt. Die schwere mit Metall beschlagene Tür stand offen ... und der Schlüssel steckte. Hm? Also ich hätte schwören können, daß ich sie nach unserem ersten Besuch hinter mir abgeschlossen habe! Schnaufend zwängte er sich durch die Türöffnung, und als er sich wieder aufrichtete, befand er sich – wie durch Geisterhand – in einer Welt, weit ... weit entfernt von seiner Pfarrei.
Das Flackern der Laternen, die Farben der Gemälde, die vielen Gesichter, die ihn ansahen, und das Geheimnis, das sie umfing ...das alles schuf eine Atmosphäre wie in einem unheimlichen Traum.
Bilder, egal wohin er sah. Riesige Gemälde und zwischen ihnen eine Vielzahl kleiner und kleinster Werke. Kein Zentimeter dieser steinernen Halle wies noch einen freien Platz auf. Der Alte hatte in seiner Sammelwut sogar damit begonnen, die ersten Gemälde auf Staffeleien mitten in den Raum zu stellen. Er verstand zwar nichts von Malerei, aber eins wußte er: Das alles hier muß Unsummen gekostet haben !
Langsam schritt er mit erhobenen Laternen an der Bilderwand entlang, die er schon bei seinem ersten Besuch mit Marie betrachtet hatte. Er blieb stehen und las die kleine hölzerne Tafel neben einem der Kunstwerke, das er wiedererkannte:
Dierick Bouts, A BENDMAHLSALTAR ,
1464-67, Holz, Mitteltafel, 180 x 151 cm, Löwen, S. Peter
Es war offensichtlich, daß dieses hier nur eine Kopie des Originals sein konnte, denn es war deutlich kleiner, als die auf der Tafel angegebene Größe. Das gleiche galt übrigens auch für das Bild daneben, das – er fuhr mit seinem Finger über dessen Oberfläche – ebenfalls in Öl gemalt war.
Justus von Gent , D IE E INSETZUNG DES A BENDMAHLS ,
1473-74, Öl auf Holz, 287 x 222 cm
Vielleicht war diese Sammlung ja der Grund dafür, daß der Alte ständig in der Welt unterwegs gewesen war?
Ich bin mir absolut sicher: Der alte Pfarrer Saunière hat uns hier eine geheime Botschaft hinterlassen! Nach einigen Schritten blieb er stehen, wandte sich dem nächsten Gemälde zu und stellte eine seiner Laternen ab. Mit der anderen beugte er sich so dicht an die Leinwand heran, daß seine Nase das Werk fast berührte. Er konnte die ölige Farbe deutlich riechen.
Tintoretto, D AS LETZTE A BENDMAHL ,
1592-94, Leinwand, 365 x 568 cm, Venedig
stand fein säuberlich auf dem kleinen Schild daneben.
»Ja«, murmelte er leise und wandte sich nach links, wo gerade Leonardo da Vincis A BENDMAHL im Schein der Laterne auftauchte, vor dem sich Marie bei ihrem ersten Besuch so begeistert niedergeworfen hatte.
Wenn er ihr jetzt erklären müßte, wonach er gerade suchte,
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