Seelenbrand (German Edition)
er und verließ den Raum.
Marie war sprachlos – was nicht sehr häufig vorkam – undangelte ohne hinzusehen nach einem Stuhl, während Pierre mit stampfenden Schritten die Treppe ins obere Geschoß hochstieg.
Er konnte einfach nicht länger hier bleiben. Wie sollte er je wieder in der Kirche eine Zeremonie abhalten, ohne sich bei jedem Wort wie ein gewissenloser Lügner vorzukommen? Er konnte den Eltern bei der Taufe morgen doch nicht mehr ruhigen Gewissens in die Augen sehen, wenn er ihnen und ihrem Kind den Segen Gottes verlieh. Bis zum gestrigen Tage wußte er es ja nicht besser – er war ahnungslos, wie all die anderen. Aber spätestens seit der letzten Nacht konnte er es vor sich nicht mehr verantworten, den Menschen im Namen der Kirche Dinge vorzulügen ...
Ermattet ließ er sich mit seiner nassen Hose aufs Bett fallen. Diese Pumpe in der Küche hatte wirklich gute Arbeit geleistet, er triefte am ganzen Körper. Starr blickte er an die Decke. Dieses ganze Geheimnis, dem er hier unabsichtlich auf die Spur gekommen war ... war es wichtig genug, daß er damit den Leuten in seiner Pfarrei ihren Seelenfrieden rauben durfte? Hatte er überhaupt das Recht dazu, mit irgend jemandem diese fürchterlichen und zerstörerischen Gedanken zu teilen, die ihn selbst bis an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten?
Er hörte, wie Marie unten in der Küche die Glasscherben in einen Blecheimer warf. Niemals würde er es übers Herz bringen, diese nette Person da unten solchen Qualen auszusetzen, wie er sie im Augenblick ertragen mußte. Er hatte einfach nicht das Recht dazu. Sie war ein solch fröhlicher und lebensbejahender Mensch ... und er machte sich nur zum Werkzeug des Teufels, wenn er sie noch weiter in diese Sache hereinziehen würde. Unten in der Küche war es still geworden.
Noch nie hatte er eine Stelle einfach hingeworfen, aber das hier war auch keine normale Pfarrstelle. Hier war er der Torwächter am Käfig eines Monsters, das, wenn es freigelassen oder unbeabsichtigt ausbrach, die ganze Welt in Raserei versetzen würde. Und ausgerechnet e r, sollte vor den Pforten dieser Hölle Wache halten ... und entscheiden, ob dieses ungeheuerliche Monster – namens Wahrheit – auf die Menschheit losgelassen werden sollte, oder nicht? Da packte er doch lieber seine sieben Sachen und setzte sich äußerlich dem Makel des Versagens aus ...
»Ich habe Ihnen Kaffee gemacht!« sagte plötzlich eine Stimme.
Pierre sah zur Tür. Marie stand mit zwei Tassen im Raum und hielt ihm ohne weitere Umschweife eine davon vor die Nase. Er setzte sich auf und lehnte sich gegen das Kopfteil seines Bettes. Sie zog sich einen Stuhl heran.
Eine seltsame Situation. Bislang hatten sie es immer vermieden, sich in eine – wie auch immer geartete – unziemliche Situation zu bringen. Er, der Pfarrer des Dorfes, lag halb bekleidet auf seinem Bett, und eine junge, ausgesprochen hübsche Frau saß mit einer Tasse Kaffee davor. Gestern noch hätte er sich – wie er es in solchen Fällen immer tat – lautstark geräuspert und das Kaffeetrinken auf neutralen Boden, etwa in die Küche, verlegt. Aber vor dem Hintergrund der totalen Zerstörung seines Lebens war es ihm völlig egal, ob sie sich nun in einer mißverständlichen Situation befanden oder nicht.
Morgen werde ich gehen ... ihr zuliebe. Sie ist einfach wunderschön!
Schweigend tranken sie von der dampfenden Brühe. Sie war so dicht mit ihrem Stuhl an ihn herangerückt – ohne rot zu werden –, daß er ihr Parfum riechen konnte. Es war dasselbe wie in der Nacht auf dem Kirchturm, als sie sich das Phantom schnappen wollten.
»Sie können doch nicht einfach gehen«, sagte sie leise zwischen zwei kleinen Schlucken Kaffee und sah ihn ohne Hemmungen an.
Pierre überlegte lange, ehe er etwas antwortete. »Ich muß!«
Waren das Tränen in ihren Augen?
»Sie werden einen neuen Pfarrer bekommen, einen besseren, vielleicht einen ... wie dieses Musterexemplar aus der Nachbargemeinde!«
»Sie meinen es also wirklich ernst?« flüsterte sie und wischte sich eine Träne von ihrer Wange. »Ist es meinetwegen? Bin ich eine solch ... fürchterliche Person?«
Pierre nahm die Tasse vom Mund und stellte sie zurück auf die Untertasse. »Sie sind ...«, was soll’s, mein Leben liegt ohnehin in Trümmern und morgen verschwinde ich von hier, »... die interessanteste Frau, die ich je getroffen habe!«
Anstatt sich über dieses unerwartete Kompliment zu freuen – oder wenigstens zu erröten –,
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