Seelenbrand (German Edition)
Castor und Pollux, bei den Römern Romulus und Remus, bei den Türken gab es einen Zwillingskult von Momim und Aziz ...« Sie sah ihn an. »Warum sollte es dann bei uns nicht auch ein göttliches Zwillingspaar geben ... namens Jesus und ...? Wie heißt der andere?«
Pierre atmete tief durch. »Da bin ich mir noch nicht sicher. Aber es muß einer seiner Jünger gewesen sein.«
»Und was sagt die Bibel dazu?«
Er winkte ab. »Du bist schließlich genauso katholisch wie ich ... hast du jemals von irgendeinem Evangelium oder einem Apostelbrief gehört, in dem man eine derartige Frage aufgeworfen hätte?«
»Nein! Natürlich nicht. Aber ich hab’ mir ehrlich gesagt auch noch gar keine Gedanken darüber gemacht, woher das alles kommt ... was da in der Bibel steht.«
Pierre seufzte. »Ja, das ist wirklich so eine Sache mit der Tradition. Die Kinder haben es von ihren Eltern, und die wiederum haben es von den ihrigen. Und niemand guckt mehr so genau hin, was da eigentlich überliefert wird, denn was bei den Eltern und Großeltern richtig war, kann ja heute nicht falsch sein!«
Marie sah ihn erstaunt an. »Wie konntest du nur Pfarrer werden?«
»Weiß ich auch nicht! Ein Monteursanzug und ein Schraubenschlüssel hätten mir wohl besser zu Gesicht gestanden! Aber im Unterschied zu vielen meiner Priesterkollegen habe ich mit der Weihe meinen Verstand nicht abgegeben ... und habe mich in den vielen Jahren schon mehrfach mit der Frage beschäftigt, woher die Sachen eigentlich kommen, die in der Bibel stehen. Und dabei bin ich auf ein paar sehr seltsame Dinge gestoßen ...«
»Jetzt machst du mich aber neugierig!« Marie rutschte näher an ihn heran.
Pierre überlegte. »Nenn mir mal die Namen der Heiligen Drei Könige.«
»Das ist einfach!« frohlockte sie. »Kaspar, Melchior und Balthasar. Das weiß doch jeder!«
»Und woher kennt man wohl ihre Namen?«
»Hm? Aus der Bibel nehme ich an!«
»Falsch! Ob du es mir glaubst, oder nicht ... sie stehen nirgendwo im Neuen Testament, im Alten natürlich auch nicht. Sie stehen nirgendwo!«
»Aber ...«, stotterte Marie. »Ich dachte ... weil doch jeder ihre Namen kennt, müssen sie doch irgendwo da drin stehen ...«
Pierre sah ihr tief in die Augen und schüttelte währenddessen fortlaufend den Kopf. »Nein! Glaube mir, sie stehen nicht in der Bibel!«
»Hm!« Marie rieb sich das Kinn.
»Eine zweite Frage!« fuhr er fort und machte eine lässige Handbewegung. »Die Antwort kennt jedes Kind.«
Maries Ehrgeiz war geweckt.
»Welche Tiere standen in dem Stall, in dem Jesus geboren wurde?«
»Ochse und Esel!« Sie triumphierte. »Ich glaube es gibt wohl keine Krippe, in der die beiden fehlen. Jeder hat sie doch mit Maria und Josef und dem Jesuskind auf dem Dachboden liegen ... für Weihnachten.«
Pierre nickte anerkennend. »Du hast recht! Wir kennen die beiden von unseren Eltern und die wiederum kennen sie von ihren Eltern und so weiter. Aber ...«, er stockte und hob seinenbelehrenden Zeigefinger. »Jeder kennt sie ... aber sie stehen nicht in der Bibel.«
»Nicht?« fragte Marie entsetzt.
»Nein! Und wenn du hundert Jahre suchst!«
»Ja, aber ...«, stotterte sie. »Wenn das mit den Heiligen Drei Königen und mit dem Ochsen und dem Esel nicht da drin steht ... woher wissen wir es dann ... und vor allem, warum akzeptiert die Kirche dann diese Dinge ... wo sie doch eigentlich nirgendwo stehen?«
»Aha!« Pierre hob wieder seinen Finger. »Genau an diesem Punkt habe ich mich schon vor Jahren gestoßen! Bis ich dann als junger Priester in einer Bibliothek eher zufällig auf ein muffiges, altes Buch gestoßen bin ... auf die sogenannten ... verborgenen , die apokryphen Schriften !«
Sie klebte vor lauter Spannung förmlich an seinen Lippen, als er abrupt abbrach. »Wolltest du nicht unbedingt runter in die Krypta?«
»Ach«, sie winkte ab, »die Sarkophage da unten laufen uns schon nicht weg!«
Er schmunzelte in sich hinein.
»Los! Erzähl schon weiter von den ...«
»Apokryphen«, ergänzte er gnädig. »Die Sache ist eigentlich schnell erklärt. Bei diesen sogenannten verborgenen Schriften handelt es sich um all die Evangelien, die die Kirche nicht im Neuen Testament haben wollte.« Sein Blick schweifte wieder über den Boden auf der Suche nach dem Anhänger. »Das gilt im übrigen auch für das Alte Testament. Unsere alten Kirchenfürsten haben damals alles, was ihnen nicht in den Kram paßte – ob Schriften, Psalmen, Evangelien – sie haben das alles aus dem
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