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Seelenbrand (German Edition)

Seelenbrand (German Edition)

Titel: Seelenbrand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Mickholz
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Alten und Neuen Testament ... einfach rausgeschmissen. Und das schon im 4. Jahrhundert unter Kaiser Konstantin. Aber gib mir doch noch mal die Lampe.« Er war aufgestanden.
    »Und diese Apokryphen sind also alle die Schriften, die rausgeflogen sind?«
    Er nickte. »... oder die erst gar nicht reingekommen sind, weil sie die einfachen Gläubigen – so wie dich und mich – verwirren könnten.«
    »Steht denn da etwas über den Zwillingsbruder von Jesus drin?«
    »Nein! Aber ich habe da Sachen gelesen, die mich seinerzeitgenauso umgehauen haben!« Er ließ sich auf die Knie hinunter und rutschte suchend über den Kirchenboden.
    »Nun erzähl schon!« Marie war aufgesprungen, weil sie seine Geheimniskrämerei nicht länger sitzend ertragen konnte.
    Er überlegte. »Da gibt es zum Beispiel das sogenannte Thomasevangelium, von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Es befaßt sich mit den Wundern, die Jesus als Kind vollbracht haben soll.« Er setzte sich auf den Steinboden und stellte die Laterne neben sich. »Sinngemäß ging es an einer Stelle zum Beispiel darum, daß Jesus als fünfjähriger an einem Bach mit Schlamm gespielt hat ... wie das Kinder seines Alters eben so tun.«
    Marie hatte sich neben ihn auf den Kirchenboden gesetzt und lauschte.
    »Er machte nun aus Erde und Wasser einen Lehmteig und formte daraus zwölf Sperlinge. Aber es war Sabbat, als er das tat. Ein anderer Junge, ein Jude, sah was Jesus da am Sabbat tat und petzte das sofort bei dessen Vater. Josef ging also dann zum Bach zu seinem Sohn und schrie Jesus an: › Warum tust du am Sabbat solche Dinge, die zu tun doch nicht erlaubt sind?‹ Jesus klatschte in die Hände und rief den Sperlingen zu: ›Auf! Davon!‹ Die Sperlinge aus Lehm flatterten auf einmal mit den Flügeln und flogen zwitschernd davon. Die Leute erschraken natürlich und berichteten das ihren Oberen.«
    »Aber das hört sich doch phantastisch an«, flüsterte Marie ehrfurchtsvoll. »Warum steht denn etwas so Anrührendes nicht im Neuen Testament?«
    »Warte ab!« Pierre legte ihr die Hand auf den Arm. »Es geht noch weiter.« Der Schein der Lampe flackerte in ihren Gesichtern. »Neben Josef, der Jesus gerade angeschrien hatte, stand nun auch ein anderer Junge, er war der Sohn des Schriftgelehrten Hannas. Mit einem Stock, den er in der Hand hatte, zerstörte der nun mutwillig das kleine Netz von Löchern und Kanälen, das Jesus beim Spielen in den Schlamm gegraben hatte. Als jener das sah, wurde er natürlich böse und sagte zu diesem Jungen: ›Du gottloser und unvernünftiger Schlingel! Was haben dir denn die Gruben und die Wasser zuleide getan, daß du sie austrocknen läßt? Siehe, jetzt sollst auch du, wie ein Baum, wenn er ohne Wasser ist, austrocknen und sollst weder Blätter noch Wurzeln noch Frucht tragen!‹ Und sogleich verdorrte jener Knabe ganzund gar. Voller Wehklagen trugen die Eltern den verdorrten Jungen in das Haus Josefs, also zum Vater von Jesus, und beschuldigten ihn: ›Einen solchen Sohn hast du, der derartiges tut!‹«
    Marie befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Soll das heißen ... Jesus hat diesen anderen Jungen umgebracht?« flüsterte sie ungläubig.
    »Dort steht nur, daß der Knabe verdorrt war, und daß sein Leben schon früh zerstört worden ist. Aber es kommt noch besser!«
    Marie durchfuhr ein Frösteln.
    »Als Jesus nun nach diesen Ereignissen durchs Dorf ging«, fuhr er fort, »stieß er mit einem anderen Kind an der Schulter zusammen, und Jesus wurde wieder böse. ›Du sollst deinen Weg nicht weitergehen!‹ rief er dem anderen Kind zu ... und das Kind fiel hin und starb.«
    »Das gibt’s doch nicht!« wisperte Marie.
    »Doch! Du kannst es selbst nachlesen. Ich hab’ es auch nicht geglaubt! Aber die Geschichte geht noch weiter.«
    Marie griff sich ihren Umhang von der Bank und setzte sich wieder neben Pierre auf den Kirchenboden.
    »Die Eltern des gestorbenen Kindes kamen natürlich zu Josef und waren außer sich. ›Mit einem solchen Knaben kannst du nicht bei uns im Dorf wohnen. Oder bring ihm bei, daß er segnen soll und nicht fluchen! Er läßt unsere Kinder ja sterben.‹ Josef stellte seinen Sohn Jesus also zur Rede und drohte damit, daß die Leute sie aus dem Dorf jagen würden.«
    Marie wickelte sich in ihren warmen Umhang.
    »Und du glaubst nicht, was Jesus dann getan haben soll«, fuhr Pierre fort. »Er sagte darauf zu Josef: ›Ich weiß zwar genau, daß diese deine Worte nicht deine, sondern dir nur eingeflüstert sind.

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