Seelenbrand (German Edition)
vorbeibrausen sehen, als er gerade mit seinem Fahrrad zur Pension wollte.«
»Es muß hier doch irgendwo sein!« Pierre kniete sich nieder und suchte mit der Hand den Boden vor dem Altar ab.
»Er hätte sich mit seinem Fahrrad fast den Hals gebrochen, hat er meiner Tante erzählt, als ihm das Gefährt in rasender Fahrt entgegengekommen wäre. Und irgendwer – vom Beifahrersitz – hätte ihm sogar noch eine Unverschämtheit nachgerufen.«
Pierre nickte. »Das hört sich ganz so an, als hätten sie Rodrigues auch noch mitgenommen.« Er erhob sich von seinen Knien. »Dann haben wir wenigstens für eine gewisse Zeit unsere Ruhe.
»Wollten wir nicht runter in die Krypta? Was suchst du denn da überhaupt?«
»Den Anhänger, der vorhin von der Teufelsfigur abgefallen ist, die sie dem Alten ins Automobil gelegt haben.« Er nahm ihr eine Laterne aus der Hand und schwenkte sie über dem Boden hin und her. »Er muß doch hier irgendwo sein. Ich hab’ ihn genau gesehen. Es war so einer ... wie wir ihn beim Totengräber gefunden haben.«
»Mit den zwei verschlungenen Davidsternen? Wie das Wappen auf dem Schild in der Ruine von Blanchefort?«
Pierre richtete sich auf, stellte die Hacke beiseite und unterbrach seine Suche. »Komm!« Er schob sie sanft auf die erste Bankreihe zu. »Setz dich erst mal. Ich muß dir etwas sagen.«
»Aber, wir wollten doch ... in die Krypta«, protestierte sie, als er sie mit leichter Gewalt auf die Bank zwang.
»Nachher!« Er setzte sich neben sie und legte das lange Seil, das er immer noch um seinen Hals trug, beiseite. »Eigentlich wollte ich die Sache ja erst mal für mich behalten, bis ich ganz sicher bin.« Er kratzte sich am Kopf. »Aber ich brauche eine zweite Meinung.«
Marie sah ihn schweigend an und konnte es kaum abwarten.
»Hältst du es für möglich ...«, Pierre strich sich übers Kinn, »daß Jesus einen Zwillingsbruder hatte?«
»Das ist es also!« Marie schnippte mit dem Finger. »Natürlich! Das ergibt einen Sinn!«
Pierre war erstaunt. »Warum bist du denn nicht einmal schockiert, wenn dir dein Pfarrer eine derartige Frage stellt? Ich hatte eigentlich erwartet, daß du mich wenigstens für verrückt erklärst!«
Marie sah zu den Figuren hinter dem Altar hoch. »Maria ...«, ihr Finger wanderte zur anderen Statue hinüber, »... und Josef!« sagte sie langsam. »Beide mit dem Jesuskind auf dem Arm ...« Sie schnippte wieder mit dem Finger und tippte sich an die Stirn. »Natürlich! Es war die ganze Zeit vor mir. Direkt vor meinen Augen ... nicht zu fassen! Genau wie das Standbild der Maria auf dem Weg ins Nachbardorf.« Sie fuchtelte wild mit den Händen. »Du weißt schon, die mit den zwei Knaben. Ich habe immer gedacht, es wären Engelchen ... aber natürlich ... das gibt’s ja gar nicht ... diese Figuren hat doch noch unser alter Pfarrer dort hingestellt.« Aufgeregt griff sie Pierres Hand. »Wann bist du darauf gekommen?«
Er fühlte ihre warme Haut. »Die Bilder im Turm der Bibliothek ...«
Sie nickte. » Deshalb wolltest du also plötzlich alles hinschmeißen und abreisen?«
Pierre schnaufte.
»Hast du mir nicht selbst gesagt«, Marie zappelte aufgeregt hin und her, »daß der alte Abbé einen richtigen Wahn mit der Zahl Zwei gehabt haben soll?«
»Ja. Und auf den Bildern, die er gesammelt hat, hat er auf jedem einzelnen – immer über dem Kopf zweier Personen – das Zeichen der Zwillinge gekritzelt.« Er sah sie ernst an. »Und du glaubst es nicht ... sie sahen sich tatsächlich ähnlich. Es war unübersehbar!«
»Aber ...«, Marie stockte und überlegte, »... wie soll denn das gehen? Die Ölschinken – oder die Originale der Kopien, wie dieses Abendmahl von Leonardo da Vinci –, sie sind doch alle mindestens schon vierhundert Jahre alt ...« Jetzt schien ihr endlich ein Licht aufzugehen. »Meinst du etwa ...«, aufgeregt umklammerte sie seine Hand, »... daß der Alte ein jahrhundertealtes Geheimnis wiederentdeckt hat?«
Pierre zuckte mit den Achseln. »Klingt das nicht an den Haaren herbeigezogen ... das mit den Zwillingsbrüdern?«
Sie überlegte, während sie ihre Hand langsam von der seinen löste. »Historisch betrachtet klingt das gar nicht so lächerlich«, antwortete sie nach einer Weile bedächtig. »Die Geburt von Zwillingen, besonders von eineiigen, galt in früheren Zeiten immer als Wunder. Die Leute glaubten dann meistens, irgendein Gott hätte da die Hände im Spiel gehabt.« Sie rieb sich an der Nase. »Bei den Griechen gab es
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