Seelenbrand (German Edition)
zeitweilig eine Hauptstadt der Westgoten. Sie wissen schon ...«, sagte sie betont beiläufig, »... das sind die, die im Jahre 410 Rom überfallen und ausgeplündert hatten.«
Natürlich! Das wußte doch wohl jeder! Jedenfalls jeder, der noch nicht auf Seite zwei eines dieser langweiligen Geschichtswälzer eingeschlafen war – so wie er. Aber, Donnerwetter! Siewußte mehr über diese historischen Details als er. Sehr peinlich! Er nickte, ohne sich seine Unkenntnis anmerken zu lassen. »Und diese Westgoten haben sich dann hier im Languedoc, in Rennes, unter meinen Füßen mit den geraubten Schätzen aus Rom niedergelassen. Richtig?«
»Genau! Es wird sogar gemunkelt, daß sie auch den Schatz König Salomons hier versteckt hätten.«
»Und wie sind sie an diesen ... Salomon gekommen? Ich denke, der lebte irgendwo im Heiligen Land?« Puuh! Mit diesem Geschichtskram konnte man ihn wirklich jagen. Namen, Daten, Schall und Rauch ... alles nichts Handfestes.
»Diesen Schatz des Salomon hatten die Römer schon nach Rom verschleppt, nachdem sie Jerusalem im Jahre 70 geplündert und zerstört hatten. Also brauchten die Westgoten ihn einfach nur noch einzupacken und hierherzubringen!«
Sie hatte zwar eine eigentümliche Art, die Dinge zu verkürzen, aber wenigstens konnte er ihr folgen. Er liebte Kurzzusammenfassungen, sie sparten ihm eine Menge Zeit ... und Geduld. Denn darüber verfügte er nur in sehr begrenztem Maße.
»Vielleicht liegt hier aber auch der verschwundene Schatz der Tempelritter; hier, ganz in der Nähe einer ihrer Ordensburgen? Denken Sie an das Gold, das Abbé Saunière gefunden haben soll!«
Vielleicht hatte sie in ihrer Jugend doch ein wenig zu oft Stevensons Schatzinsel gelesen.
»Die Leute im Ort glauben sogar, daß der Heilige Gral hier irgendwo versteckt worden ist«, flüsterte sie. »Der Kelch des Letzten Abendmahls, in dem man das Blut Jesu aufgefangen hat, als er am Kreuz hing.« Sie blickte ihn mit großen Augen vielsagend an.
Ja, er war von seiner neuen Pfarrei irgendwie angenehm überrascht. Er mußte zugeben, daß sie ihn neugierig gemacht hatte, obwohl er noch immer dabei blieb: Gold, vergrabene Schätze und derartige Sachen gab es nur in Büchern, die er schon lange nicht mehr las. Woher auch immer dieser Abbé Saunière das Geld gehabt haben mochte, er würde es sicherlich bald herausfinden.
»Wenn Sie noch mehr über die Geschichte dieser Gegend erfahren möchten ... dann werden Sie dort bestimmt alles finden, was es dazu gibt.« Sie deutete auf den burgähnlichen Turm, der an dieser Seite den Abschluß der Terrasse bildete. »Die Bibliothekvon Abbé Saunière. Er hat sich dort nächtelang eingeschlossen und an irgendwelchen Dingen gearbeitet. Niemand weiß woran.«
Sie gingen einige Schritte auf das ungewöhnliche Bauwerk zu, das so aussah, als wäre es gerade einem mittelalterlichen Ritterepos entsprungen. So als habe man – wie aus einem Kuchen – ein Stück der sagenhaften Burg Camelot herausgeschnitten und hierher an diesen abgelegenen Winkel der Pyrenäen gestellt.
»War Ihr alter Pfarrer ein Ritterfreund?« Er legte seinen Kopf in den Nacken und blickte die Mauer hinauf.
Sie zuckte mit den Achseln. »Madame Pauline hat mir nur erzählt, daß er sich viel mit der Geschichte der Tempelritter beschäftigt hat. Und da die Ruinen ihres Ordenshauses in Sichtweite liegen, könnte es doch sein, daß er eine Leidenschaft für sie entwickelt hat.«
Auf einmal wurde ihm klar, was ihn an diesem Gemäuer so störte. Es war ein Fremdkörper an diesem Ort. Es paßte optisch nicht zur Villa, die sich der alte Abbé zur gleichen Zeit hatte bauen lassen, nicht zum groben ungehobelten Stil der Pfarrkirche, und schon gar nicht gehörte es in diesen lieblichen Park, mit seinen weißgekiesten Wegen und dem Springbrunnen. Dieser würfelige Bau mit seinen bunten Kirchenfenstern stand da, wie ein Mausoleum auf dem Friedhof. Nur, was wollte man an einem solch lieblichen Flecken, in Sichtweite der idyllischen Laube so auffällig begraben? Auch die verspielten Zinnen, oder der kleine Turm auf dem Dach, der aussah, als sei er aus einem überdimensionalen Schachspiel entnommen worden, änderten nichts an der Ähnlichkeit mit einer Begräbnisstätte.
»Waren Sie schon einmal in diesem Ding, Marie?«
»Gott behüte!« wehrte sie heftig ab. »Niemand außer dem Pfarrer durfte es betreten. Die Türen waren immer verriegelt. Mehrere Tage hintereinander hat er sich schon mal in diesem Turm
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