Seelenbrand (German Edition)
auf dem Sprung sah sie in die diversen Schränke und Schubladen.
Er mußte zugeben, daß ihm diese Sache mehr und mehr Spaß machte. Das erinnerte ihn an Zeiten, in denen er noch ein freierMensch war, ohne diese einengende Verkleidung, die einen stets ermahnte, sich würdevoll zu benehmen.
»Nur eine Bibliothek?« Marie war hörbar enttäuscht. »Und darum hat er all die Jahre ein solches Geheimnis gemacht?«
In der Tat, wenn man die Aufregung mit der Ratte abzog, blieb von diesem Raum nichts weiter übrig, als der staubige Muff der zahllosen Bücher, die in den durchgebogenen Regalen standen. Pierre stellte den Kerzenständer zurück und öffnete das Fenster. Der frische Luftzug machte den üblen Geruch erträglich.
»Sehen Sie mal hier!« rief Marie, die ihren Mut und ihre Neugier offensichtlich wiedergefunden hatte. »Hinter diesem Regal!«
Er griff sich, ohne lange zu überlegen, wieder den schweren Ständer und ging zu der Ecke hinüber, aus der er ihre Stimme gehört hatte.
»Hier!« Aufgeregt kam sie ihm schon entgegengesprungen. »Eine Treppe!«
Tatsächlich! In einer dunklen Nische des Raumes führte eine enge steinerne Treppe schneckenförmig nach oben. Gerade so breit, daß eine Person geduckt die Stufen emporsteigen konnte.
Pierre brauchte nicht lange zu überlegen, er wollte schließlich wissen, was in diesem Dorf los war. Mit festem Griff hielt er seine Messingkeule und ging voran. Da sich die Wendeltreppe – wie in einem Schneckengehäuse – in engen Bögen nach oben schraubte, war es nach wenigen Windungen wieder stockdunkel. Das Licht, das durch die geöffneten Fenster in den Turm hineinfiel, traute sich nicht einmal um die zweite Ecke dieses engen Aufgangs. Mist!
»Wir brauchen mehr Licht«, rief er über seine Schulter zurück.
»Ist die Riesenratte da oben?« kam es postwendend zurück.
Oh, verdammt! Den hasengroßen Nager hatte er ganz vergessen! Was nützte ihm seine Keule, wenn er gar nicht sehen konnte, wo derjenige saß, dem er damit einen überziehen wollte? Er hatte sich gerade umgedreht, um sich zurückzuziehen, als sich hinter ihm plötzlich die Stufen erhellten.
»Sehen Sie, Abbé du Lac, ganz ohne meine Hilfe geht es doch nicht!« sagte sie unüberhörbar vorwitzig und stolz. »Die Petroleumlampe hat unten neben der Treppe gestanden.«
Sie hatte Angst, allein dort unten zu bleiben, das war doch offensichtlich.Aber – so wie er sie einschätzte – würde sie das niemals offen zugeben!
Im gelben Schein der Laterne sahen sie, daß der Gang so eng durch das Mauerwerk gezogen war, wie der Tunnel, den ein Wurm auf seinem Weg durch einen Apfel hinterlassen hatte. Gerade so breit, daß er selbst hindurchpaßte.
»Hier oben ist eine Tür!« Pierre keuchte und hustete. Der Staub, der Gestank und diese Enge waren auch für ihn eine starke Mischung. »Leuchten Sie mal hier herüber!« Er krampfte seine Hand um den Messingständer. »Der Schlüssel steckt!« Die Tür war aus schweren dunklen Bohlen zusammengezimmert und zusätzlich mit Eisenbeschlägen verstärkt. »Sollen wir nachsehen, was dahinter ist?«
Da Marie keinen Pieps von sich gab, wertete er das als Zustimmung und drückte die knarrende Tür langsam auf. Jeder Muskel seines Körpers war gespannt. Seine Nackenhaare, die sich immer dann aufrichteten, wenn es brenzlig wurde, hatten ihm gerade den guten Rat gegeben, auf der Hut zu sein. Und meistens hatten sie recht! Aber ... es geschah überhaupt nichts! Kein Geräusch, kein Luftzug und keine Rattenherde!
»So weit, so gut!« schnaufte Pierre leise und wischte sich mit einem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Sind Sie noch da, Marie?« Er wandte sich leicht zu ihr um. Die Enge des Gangs ließ ihnen kaum Luft zum Atmen.
Natürlich war sie noch da. Aber ihr Selbstverständlich! klang doch schon deutlich piepsiger. Sie zwängten sich gebückt durch den engen Durchgang und fanden sich in einem fensterlosen Raum wieder. Er nahm ihr wortlos die schwere Petroleumlampe aus der Hand und hielt sie mit seinem muskulösen Arm in die Höhe.
»Was ist denn das hier?« Ihre Stimme vibrierte.
»Ich weiß es nicht. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Im fahlen Schein der Lampe erkannten sie, daß sie sich in einem kreisrunden Raum befanden, direkt über der Bibliothek. Im Zentrum der kuppelartigen Decke gab es nur eine einzige, runde Öffnung, die etwa die Größe einer Melone hatte. Sie war mit etwas verschlossen, das aussah wie ein riesiger Kristall. Die auftreffenden
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