Seelenbrand (German Edition)
eingeschlossen, ohne herauszukommen.«
Pierre drückte die schwere Eisenklinke herunter, eigentlich nur, um sich davon zu überzeugen, daß sie auch wirklich verschlossen war. »Sie ist offen!« sagte er erschrocken, als sich die Tür einen Spalt öffnen ließ, und nahm wie elektrisiert seine Hand von der Klinke.
»Vielleicht hat Madame Pauline ...«, stotterte Marie, selbst sichtlich überrascht.
»Meinen Sie, daß wir mal einen Blick riskieren sollten?«
Sie zögerte. »Wenn man es genau nimmt, dann sind Sie doch jetzt irgendwie der neue Verwalter von all dem hier, oder nicht?«
»Ja, so könnte man es sehen.« Er kräuselte seine Stirn und schnüffelte angestrengt. »Riechen Sie das, Marie?« Seine Nackenhaare begannen sich aufzurichten. Es war derselbe faulige Geruch, den er schon an der Kirche wahrgenommen hatte. Erschrocken sah er sich die Innenflächen der Hand an, mit der er die Klinke berührt hatte. Aber es war kein Moos an ihr, und sie brannte auch nicht, so wie vorhin.
»Was soll ich riechen?« Sie schnüffelte mehrfach in seine Richtung.
Sollte er ihr von dieser verrückten Sache vorhin an der Kirche erzählen? Natürlich! Dann würde sie ihn gleich am ersten Tag für übergeschnappt halten. Er hatte keinen einzigen Beweis für seine Geschichte. Also: Mundhalten!
Er holte tief Luft, zwang die Türklinke mit entschlossener Kraft hinunter und öffnete die Tür einen kleinen Spalt.
Augenblicklich schlug es ihnen entgegen.
»Oh Gott, was ist denn das?« rief Marie entsetzt und hielt sich Mund und Nase zu.
Pierre mußte mit Gewalt seine Kohlsuppe zurückhalten, nachdem ihn ein voller Schwall davon erwischt hatte. Es war dieser faulige Gestank von Verwesung. Während er sich umdrehte, um sich vor den widerlichen Schwaden in Sicherheit zu bringen, verpaßte er der schweren Tür einen festen Tritt, so daß diese jaulend nach innen aufflog.
»Riechen Sie jetzt etwas?« fragte er noch mal, während er sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen tupfte. »Diese Wolke hat mich voll erwischt.«
Marie konnte nicht mehr antworten. Sie war schon einige Meter davongelaufen und stand jetzt an jener Mauer der Terrasse, von der sie vorhin die Landschaft bewundert hatten.
»Kann ich Ihnen helfen?« Pierre kam näher und stellte sich neben sie, während sie ihren Kopf über die Mauer in die Tiefe streckte. Mit ein paar hektischen Handbewegungen gab sie ihm – ohne etwas zu sagen – zu verstehen, sich ein paar Meter vonihr zu entfernen. So bleich wie sie aussah, verhandelte sie gerade mit ihrem Magen, ob das Mittagessen – vermutlich die Kohlsuppe – unten bleiben konnte oder nicht. Zuschauer waren unerwünscht.
Wenn auch die Nebenwirkungen dieser Dunstwolke ausgesprochen unappetitlich waren, so bewies Marie doch gerade eindrucksvoll – wieder und wieder beugte sie sich über den Abgrund –, daß er sich immer noch auf seinen Geruchssinn verlassen konnte. Er hatte diesen bestialischen Gestank sogar noch früher erschnüffelt als sie, und das wiederum bedeutete, daß der Geruch, den er an der Kirche wahrgenommen hatte, ebenfalls real gewesen sein mußte und keine Einbildung! Damit war er rehabilitiert! Also war er doch noch nicht übergeschnappt!
Diese positive Erkenntnis hatte jedoch auch eine negative Seite. Und das Moos? Es hatte sich bewegt – das konnte er beschwören – und war langsam seinen Arm hinaufgewachsen. Wenn der Geruch an der Kirche keine Einbildung gewesen war, dann mußte doch auch dieses unheimliche Gewächs ... Quatsch!
Marie kam langsam auf ihn zu und tupfte sich mit ihrem Taschentuch die Mundwinkel ab. Sie war zwar noch ein wenig blaß um die Nase, aber sonst wieder in Ordnung. »Entschuldigen Sie!« Sie zupfte sich ihre hochgesteckte, strenge Frisur wieder zurecht. »Aber das war zuviel für mich.«
Er nickte verständnisvoll und sah in die Tiefe des Abgrunds. »Schade um die schöne Suppe! Aber«, er spülte seine eigene Nase mit sauberer Luft durch, »im Pavillon steht ja noch welche.«
»Hören Sie auf!« rief sie und riß sich ihr Taschentuch wieder vor den Mund. »Wollen Sie da wirklich noch herein?« fragte sie, wohl in der Hoffnung, daß er die Dinge erst einmal auf sich beruhen lassen würde.
Da kannte sie ihn aber schlecht. Er war keiner dieser blutleeren, schlaffen Bücherwürmer. Von seiner schwarzen Verkleidung sollte sie sich nicht täuschen lassen!
»Das Gröbste dürfte sich mittlerweile verzogen haben.« Entschlossen begab er sich wieder zum Eingang
Weitere Kostenlose Bücher