Seelenbrand (German Edition)
des Turms. »Ich werde ein Fenster öffnen, und dann können wir uns die Sache mal aus der Nähe ansehen. Vielleicht finden wir ja auch noch heraus, wer hier diesen schlechten Atem hat!«
»Wollen Sie wirklich?« Marie schien von dieser Idee überhaupt nicht mehr begeistert zu sein.
Er sah sie an und zog vielsagend seine Augenbrauen hoch. »Könnten Sie jetzt einfach weggehen und erst morgen wiederkommen?« Aha! Sie scheint zu überlegen! » Also, ich würde vor Neugier platzen und in der nächsten Nacht garantiert kein Auge zumachen, bevor ich weiß, was da drin ist!« Da sie eine überaus wißbegierige Person zu sein schien, war es nur eine Frage der Zeit bis sie einwilligte. »Wie war das vorhin, mit den schön schaurigen Ruinen, die Sie so lieben?« Grinsend schlug er seinen Kragen hoch und vergrub seine Nase dahinter.
»Wenn Sie glauben, ich hätte Angst ...« Na bitte! Seine Stichelei hatte doch noch den erwarteten Erfolg! »... dann liegen Sie bei mir aber völlig daneben!« Zickig schlug sie den Kragen ihrer Bluse hoch und tat es ihm gleich. »Seit Jahren lebe ich schon an diesem Gemäuer und habe es aus allen möglichen Perspektiven gemalt«, sie drängelte sich neben ihn an die Tür, »und da werde ich mir doch jetzt nicht die Gelegenheit entgehen lassen mich da drinnen umzusehen!«
Junge, Junge! So etwas Neugieriges war ihm auch schon lange nicht mehr untergekommen! Aber sie war ausgesprochen robust und keines dieser feinen Püppchen!
»Können wir jetzt endlich?« drängelte sie.
Der bestialische Gestank, der sich über Wochen in dem Gemäuer angesammelt haben mußte, hatte sich durch die geöffnete Tür schon merklich verflüchtigt. Innen lag alles in schwärzester Nacht, nur erhellt von dem Licht, das durch die geöffnete Tür auf den schachbrettartig gefliesten Boden fiel.
»Da hinten ist ein Fenster!« Er deutete auf einen feinen Lichtstrahl, der sich schwächlich zwischen zwei zugezogenen Vorhängen hereinwand. Mit zügigen Schritten durchquerte er den Raum und riß die schweren Stoffbahnen zur Seite. Aber noch ehe er das dahinter liegende Fenster öffnen konnte, schrie Marie hell auf. »Da! Da! Rechts neben Ihnen! Passen Sie auf!«
Erschrocken warf er seinen Kopf herum und sah sie direkt neben sich. Eine enorm große Ratte! Was heißt hier groß? Sie war riesig! Aber der plötzliche Lichtschwall hatte den Nager überrascht und erstarren lassen. Während sein mächtiger, langer, nackter Schwanz über den Rand des Schreibtisches hing, starrte erihn mit seinen schwarzen Augen an. Pierre starrte zurück, ohne sich zu rühren. Wenn er es nicht besser wüßte, hätte er glauben können, daß dieses hasengroße Vieh momentan darüber nachdachte, ob es ihn anspringen und beißen oder flüchten sollte. Aber sein Hirn arbeitete schneller, als das der Ratte. Ohne sie aus den Augen zu lassen, angelte er nach einem dicken Buch und warf es in ihre Richtung.
»Da rennt sie, da rennt sie! Dort in der Ecke!« Marie hüpfte aufgeregt an der Tür in die Luft.
»Wo ist sie hin?« zischte Pierre, als er sich bückte und vorsichtig in die diversen dunklen Ecken lugte. »Es gibt doch nur diesen einen Eingang, durch den wir gekommen sind.« Während er das Buch wieder aufhob, mit dem er geworfen hatte, las er laut auf dem Einband: »Richtlinien und Vorschriften für den Kirchendienst«. Seufzend stellte er es zurück auf den Tisch. »Da mußte das arme Tier ja Reißaus nehmen«, scherzte er, um Marie zu erheitern, die immer noch auf Zehenspitzen stehend nach dem Untier suchte.
»Wohin ist das dicke Ding denn verschwunden? An mir ist es jedenfalls nicht vorbeigekommen«, sagte sie, während sie immer noch in der Tür stand.
Pierre griff sich einen messingfarbenen, schweren Kerzenständer, der auf dem Schreibtisch stand, auf dem die Ratte gesessen hatte. »Ein Hase dieser Größe hätte einen guten Braten abgegeben!«
»Bäh!« meckerte sie von der Tür herüber. »Wenn Sie nicht gleich mit diesem unappetitlichen Zeug aufhören, dann muß ich wieder zur Mauer, und wir werden hier nie fertig!«
Langsam und vorsichtig kam sie herein. »Sie haben ja ganz schön rabiate Methoden als Priester. Wen wollen Sie denn mit dem Ding erschlagen?« Sie deutete auf den schweren Kerzenständer in seiner Hand.
»Man kann ja nie wissen, wie groß der nächste Nager wird!« lächelte er schulterzuckend. »Dieser hier hatte ja gottlob keine schlechte Laune, aber ...«
»Nun hören Sie schon auf!« Mit spitzen Fingern und immer
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