Seelenbrand (German Edition)
Unwahrheit gesagt, oder?
»Es war für mich eine fürchterliche Last«, fuhr der Bruder fort und ließ seinen Kopf erschöpft auf die Brust sinken.
»Ja, Severin ...«, Pierre legte versöhnlich eine Hand auf seinen Arm, »... wir wissen alles über Ihr Geheimnis!«
Plötzlich trat ihn jemand unter dem Tisch heftig ans Bein. Wütend sah er zu Marie hinüber und drohte ihr mit der flachen Hand. »Wenn du das noch mal machst, lege ich dich hier, vor den Augen unseres Gastes, übers Knie!« Sie wurde rot, denn er meinte es offensichtlich ernst.
Ihr Besucher hatte von all dem scheinbar gar nichts mitbekommen und strickte immer noch an seinen Gedanken. »Ich hab’s versprochen ... ich hab’s versprochen ...«, murmelte er immer wieder vor sich hin.
Pierre legte seine Gabel auf den Teller und schob ihn beiseite. »Sie haben ihm seine letzte Beichte als Freund abgenommen, und nicht als Pfarrer.« Er sprach sehr behutsam und wandte sich Severin zu. »Wir wissen ... daß er den Tod des Herrn geleugnet hat«, stocherte er noch mal nach.
Der Kräuterbruder begann am ganzen Körper zu zittern und ballte wie ein Irrer seine Hände zu Fäusten – gleich mußte es aus ihm herausplatzen. »Wenn es nur das wäre!« schrie er und sprang auf. »Er war mit Haut und Haar der Ketzerei verfallen! Ich konnte ihn nicht mehr retten!« Wirr sah er sich in der Küche um. »Er hat alles zerstört! Er ... hat aus der Erde ... die Hölle gemacht und uns ... zu Kreaturen des Satans!« Erregt ging er hin und her, sein wirres, wild abstehendes Haar wippte bei jedem Schritt auf und ab.
Pierre und Marie blickten sich ratlos an. »Ist es wegen der Bilder?« fragte Pierre.
»Die Bilder, die Bilder!« Severin hob seine Hände und huschte weiter aufgeregt umher. »Sie waren doch nur der Anfang!« Er schüttelte seinen Kopf. »Ich weiß nicht wie ... aber der alte Saunière hat herausgefunden ... daß es eine geheime Botschaft gibt, die mit dem Leiden unseres Herrn zusammenhängt!« Er sah aus dem Fenster. »Und als er mir eines Tages die Bilder gezeigt hat, die er oben in seinem Turm verbarg – das war kurz vor seinem Tod – da hat mich fast der Schlag getroffen! Unser Herr soll einen ... Zwillingsbruder gehabt haben! Und sein Name soll ...«, er sah geistesabwesend zu Pierre und Marie hinüber, die immer noch am Tisch saßen, »... sein Name soll ... Thomas gewesen sein. Einer seiner Jünger!«
»Dieser ungläubige Thomas, der zuerst die Wunden des Herrn berühren wollte, bevor er glaubte, daß ihr Meister von den Toten auferstanden war?« bohrte Pierre nach.
Severin seufzte und sah hinaus. »Immer wieder und wieder habe ich genau diese Stellen im Evangelium des Johannes gelesen. ›Da sagte Thomas, genannt Didymus, der Zwilling, zu den anderen Jüngern: Dann laßt uns mit ihm gehen, um mit ihm zu sterben.‹«
»Johannes, Kapitel elf, Vers sechzehn.« Pierre atmete schwer und sah Marie an, der es die Sprache verschlagen hatte.
»An einer anderen Stelle heißt es ...«, Severin sprach monoton weiter, »... ›Thomas, genannt Didymus, der Zwilling, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam!‹ Johannes, Kapitel zwanzig, Vers vierundzwanzig!« Plötzlich sah die verwirrte Vogelscheuche zu ihnen herüber. »Sie sind doch auch ein Mann der Kirche, so wie ich es war ... Haben Sie die Stellen jemals in diesem Verständnis gelesen?« Fassungslos schüttelte er den Kopf und seine Mähne wehte. »Ich habe es nicht glauben können ... bis mir der alte Saunière diesen Zettel hier gegeben hat!« Aufgeregt wühlte er in jeder Tasche seiner Kutte, ehe er schließlich das zerknüllte Stück Papier zutage förderte und es ehrfurchtsvoll auf den Tisch legte.
Pierre strich es glatt und atmete tief durch. »Eine Stelle aus dem Evangelium des Thomas!« Er sah kurz zu Marie hinüber, um sich dann sofort wieder in den zerfetzten Zettel zu vertiefen. »Ich hab’ dir doch vorhin, in der Kirche, von unserem mutigen Bartholomäus erzählt, der in seinem Evangelium ungeniert den Teufel ausfragte und ihm auch noch frech befohlen hat: ›Fasse dich kurz, Satan!‹ Weißt du noch?«
Marie nickte eifrig. »Das war doch aus einer dieser apokryphen Schriften, diesen ›verborgenen Schriften‹, die die Kirche nicht im Neuen Testament haben wollte.«
»Und genau aus derselben Ecke stammt das hier ...«, er hob das unscheinbare Stück Papier in die Höhe, »... was ich hier in der Hand habe. Es sind ein paar Zeilen aus den sogenannten Thomasakten. Weil das,
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