Seelenbrand (German Edition)
betraten, deckte Marie gerade den Tisch. »Guten Morgen, Bruder!«
»Guten Morgen, Marie!«
»Wir haben einen Gast zum Frühstück!« rief ihr Pierre zum Ofen hinüber, während er dem immer noch zitternden Severin einen Stuhl anbot.
»Nimmst du Kaffee?« fragte Marie den Zerzausten und kam mit der dampfenden Kanne herüber.
»Nein, nein! Um Gottes willen!« Ihr Gast fuchtelte wie wild mit den Armen. »Ich trinke dieses Gebräu schon seit Jahren nicht mehr«, fügte er dann noch nervös hinzu. »Ein Glas Wasser wäre mir sehr recht ...« Vorsichtig sah er zu Marie hinüber, die sofort die Handpumpe in Betrieb nahm und ein großes Glas zapfte. Währenddessen kramte er wie wild in den scheinbar zahllosen Taschen seiner Kutte, bis er endlich das gefunden zu haben schien, wonach er so verzweifelt gesucht hatte. Er öffnete das kleine Döschen und nahm mit einem winzigen Spatel eine noch winzigere Menge des weißen Pulvers heraus. »Für die Nerven!« lächelte er, als er bemerkte, wie Pierre und Marie ihn verwundert beobachteten.
»Eine Kräutermischung?« fragte Pierre interessiert, der spätestens nach seiner Erfahrung mit dem Alraunenextrakt seine Meinung über die Wirksamkeit von Kräutertinkturen überdacht hatte.
»Arsen!« flüsterte er.
»Arsen?« rief Marie und sah Pierre aufgeregt an. »Er will sich umbringen! Direkt vor unseren Augen! Tu doch was!«
Severin, dem vor Schreck die Hälfte des Pulvers vom Spatelchen gefallen war, hob die Hand. »Nein, nein! Keine Aufregung! In kleinsten Mengen hilft es gegen nervöse Beschwerden jeder Art«, beruhigte er die beiden schließlich.
»Und wenn du ... aus Versehen ... zuviel davon nimmst?« fragte sie besorgt nach.
Er sah sie erstaunt an: »Tod!«
»Ich hoffe, Sie wissen, was Sie da tun«, mischte sich Pierre ein, als er nach der Kaffeekanne griff. »Einen Toten auf nüchternen Magen ... das hält ja der beste Pfarrer nicht aus. Also seien Sie bitte vorsichtig damit, während ich frühstücke!«
Verwirrt und hilflos sah Bruder Severin zu Marie hinüber.
»Unser lieber Abbé hat nur einen seiner üblen Scherze gemacht. Keine Sorge!«
Irgendwie schienen sich Marie und dieser Kräuterbruder besser zu kennen, als man es auf den ersten Blick vermutet hätte. »Haben Sie sich neu eingekleidet?« fragte Pierre, als er sich genüßlich eine Gabel mit gebratenen Eiern in den Mund steckte.
Severin blickte Marie an, die unmerklich nickte. »Er ist ein Freund«, sagte sie leise zu ihrem Gast, der währenddessen immer wieder nervös an seinem Arsenwässerchen nippte.
»Diese wundervolle schwarze Kutte lag plötzlich vor meiner Hütte.« Liebevoll fuhr er mit seiner Hand über das makellose Gewebe. »Ich habe noch nie etwas so Schönes besessen.« Er hatte sich nun ein wenig beruhigt. »Ich weiß gar nicht, was die Leute haben? Ich hab’ Ihnen doch überhaupt nichts getan.« Hilfesuchend wandte er sich an Pierre. »Ist es deswegen ... weil meine Ziegen manchmal die Blumen aus den Vorgärten fressen?« Der Arme wußte scheinbar überhaupt nicht, worum es in Wirklichkeit ging, und warum ihn die Leute so wütend eingefangen hatten. Mit seinen geröteten Augen betrachtete er wie leblos sein Wasserglas.
»Iß doch wenigstens ein Stück Brot.« Marie schob ihm eine dicke Scheibe vor die Nase. »Auf die Dauer kann dieses Arsenzeug doch auch nicht so gesund sein, oder?«
Severin nickte. »Du hast recht, mein Kind! Aber ich brauche es für meine Nerven. In letzter Zeit ... eigentlich erst seit unser Freund der Pfarrer Saunière nicht mehr da ist ... haben sich die Dinge verändert, und ich weiß mir keinen anderen Rat, als ...«
»Sie haben ihm die letzte Beichte abgenommen?« fragte Pierre geradeheraus und absichtlich mit vollem Mund, um diese Befragung so inoffiziell wie möglich zu gestalten, denn er wollte seinen Gast auf keinen Fall verschrecken.
Severin nahm einen großen Schluck seiner Giftbrühe und sah Marie lange an. »In seiner letzten Stunde war ich bei ihm ... als Freund und nicht als Priester«, sagte er schließlich, aber erst nachdem ihm Marie aufmunternd zugenickt hatte.
Was verbindet die beiden denn nur?
»Du kannst unserem Abbé vertrauen.« Marie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. »Er ist ein guter Mensch.« Sanft lächelnd blickte sie zu Pierre herüber, der ihren liebevollen Blick erwiderte.
»Wie du weißt«, fuhr Severin schließlich fort, als er sein Glas geleert hatte, »praktiziere ich schon seit längerem nicht mehr in der
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