Seelenbrand (German Edition)
er dafür allein die Verantwortung tragen würde.«
Marie japste kurz, und dann wurde es wieder still.
»Also befahl Luzifer den Engeln, die ihm bis hierher ... bis an das Ende des Firmaments, gefolgt waren ...«, Severin holte tief Luft, um diese Stelle besonders zu betonen, »... bis an diesen Ort, der von allen Orten der weitentfernteste von Gott war ... hier sollten sie ... die Erde formen. Aus seiner Krone, die bei seiner Vertreibung aus dem Himmelreich seines Vaters in zwei Teile zerbrochen war, formte er die Sonne und den Mond. Aus den Edelsteinen machte er die Sterne am Himmel. Alle irdischenKreaturen, die Tiere und Pflanzen, schuf er aus dem Urschlamm. Aber die Unruhe im Himmelreich war noch nicht vorbei ...« Severin wischte sich über seine trockenen Lippen, ehe er leise fortfuhr. »Die obersten Engel des zweiten und dritten Himmels – sie teilten die Machtgelüste Luzifers – und wollten ebenfalls Herr über eine eigene Welt sein. Da baten sie Gott, für kurze Zeit auf die Erde hinuntersteigen zu dürfen ... sie kämen auch ganz gewiß zurück. Obwohl Gott, der Allwissende, ihre Gedanken und Gelüste schon längst in ihrem Geist gelesen hatte, ließ er sie gehen. ›Ihr dürft unterwegs aber nicht einschlafen‹, sagte er ihnen, ›sonst werdet ihr den Rückweg zu mir vergessen ... und ich werde euch erst nach siebentausend Jahren wieder zurückholen!‹ Luzifer ließ nun die beiden Engel heimtückisch in einen tiefen Schlaf fallen, und als sie wieder erwachten, da hatte er sie in Körper aus Fleisch eingeschlossen. Er nannte sie ... Menschen ... und gab ihnen die Namen ... Adam ... und Eva!«
Pierres Hand, die die ganze Zeit den Arm von Severin festgehalten hatte, drückte zu. Er sah dem Bruder mit der fliegenden Mähne in die Augen. »Sie sind doch verrückt, nicht?« fragte er leise. »Sagen Sie mir, daß Sie verrückt sind!« Pierres Stimme wurde lauter. »Sie können doch nicht wirklich glauben, daß ... daß wir hier in der Hölle sitzen ... und daß Ihre Geschichte auch nur einen Funken Wahrheit enthält!«
»Mein junger Freund«, lächelte Severin nachsichtig, »du selbst hast gerade das Evangelium des Bartholomäus angeführt, das – genau wie meine Erzählung aus den Quellen der Katharer – die Ereignisse am Himmel in der gleichen Form beschreibt.« Er legte sich einen Augenblick die Hand an die Stirn und überlegte, bevor er weitersprach. »Auf die Frage von Bartholomäus, wie der Herrscher der Unterwelt denn genannt würde, antwortete dieser darauf nicht: ›Ich wurde zuerst Satanael genannt, was Engel Gottes bedeutet. Als ich das Abbild Gottes verwarf, wurde ich Satan geheißen, was ... Höllenengel ... bedeutet.‹«
Pierre nickte. »Ja, ja, das mag ja alles stimmen! Aber wie konnte der allmächtige Gott das alles einfach so geschehen lassen? Er wußte doch, daß Luzifer im Himmel eine Revolution plante ... und er wußte auch, daß die beiden Erzengel nicht zu ihm zurückkehren würden. Warum ist er da nicht eingeschritten?« Pierre überlegte kurz und tippte sich dann an die Stirn. »Wie ist es dennüberhaupt möglich, daß die Geschöpfe, die der Herr eigenhändig geschaffen hat, so schlecht sind ... daß sie aus Eitelkeit nach Macht und Ruhm streben? Wie kann es sein – sofern an diesen Geschichten überhaupt etwas dran ist – daß schon die höchsten Engel, die Gott am nächsten standen ... so unvollkommen und fehlerhaft waren ... eben so wie wir? Wie sollen die Menschen denn jemals ihr Leben dem Guten widmen, wenn es nicht einmal die Engel Gottes geschafft haben?« Fragend – und mit einem Funken Stolz, diese augenscheinliche Schwachstelle in Severins unglaublicher Legende gefunden zu haben – sah er dem Kräuterbruder in die Augen.
»Die Antwort ist ganz einfach«, sagte der ohne zu zögern. »Wir alle ... genauso wie die Engel ... tragen nur einen Funken von Gott in uns. Er ist wie ein Keim, der in uns schlummert, der wachsen und gedeihen kann ... aber nur, wenn er richtig gepflegt wird!« Er hob den Finger. »Aber! Die bedeutsamste Eigenschaft, die der Schöpfer uns – und den Engeln – verliehen hat ... ist die Willensfreiheit! Der beste Beweis dafür ist doch, daß er nichts gegen Luzifer unternommen hat, obwohl er genau wußte, daß dieser Unfrieden und Leid verursachen und die Harmonie in den sieben Himmeln zerstören würde. Der Schöpfer hat seinen Wesen niemals – nicht einmal den Engeln, die ihm am nächsten standen – seinen Willen aufgezwungen oder sie zu
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