Seelenbrand (German Edition)
ihr entgegnet.« Severin raufte sich seine Haare. »Was aber nun die Empfängnis der Maria angeht, Jesus mußte ja schließlich irgendwo herkommen ...«, er schüttelte vehement den Kopf, »... da bin ich überfragt.« Grübelnd fummelte er an seinen buschigen Augenbrauen herum. »Da wird selbst bei den Katharern die Sache etwas dünn ... aber laß mich mal überlegen ... ach ja! Das Wort Gottes sei durch das Ohr in den Körper der Maria eingedrungen, und so rein, wie er in sie eingegangen war – ohne irgend etwas Stoffliches von ihr angenommen zu haben – so rein soll Jesus sie wieder verlassen haben.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber bei dieser Angelegenheit ist mein Verstand überfordert. Ich versteh’s einfach nicht ... aber das ist nur ein Detail, das uns nicht den Blick auf die gesamte Szene versperren darf. Ich hoffe, du verzeihst mir meine Unwissenheit ... in diesem Punkt!«
Die Gedanken in Pierres Kopf sprühten wie ein Funkenregen in der Dunkelheit.
»Bruder!« sagte er schließlich und drückte den Arm seines Gegenübers. »Bis vor einer Minute war ich der festen Überzeugung«, er machte eine Faust, »daß ich die Wahrheit über Jesus herausgefunden habe. Ohne Zweifel ... für mich hatte er einen Doppelgänger, der an seiner Stelle gekreuzigt worden ist. Und die Kirche hat alles gewußt und uns darüber seit Jahrhunderten belogen! Und was die Heilige Schrift angeht ...«, er machte eine abfällige Handbewegung, »... ich hatte sie als von der Kirche in Auftrag gegebene Lügenschrift enttarnt, und jetzt ...«
Severin lächelte verständnisvoll. »Ich habe dich ins Wanken gebracht, nicht? Ihr jungen Leute habt es immer ein wenig eilig ... mit der Wahrheit ... ihr habt keine Zeit ... keine Geduld!« Er tätschelte Pierre den Arm. »Aber geh nicht zu hart ins Gericht mit dir, junger Freund ... denn auch nach katharischer Auffassung ließ Christus an seiner Stelle ... einen Dämon kreuzigen ... dem er seine Gestalt gegeben hatte. Mit der Wahrheit ist das also so eine Sache. Auch diese Katharer – die die Kirche unbedingt ausrotten wollte – waren bestimmt nicht im Besitz aller Geheimnisse ... aber sie sollen uns ein Vorbild dafür sein, daß wir nicht einfach alles gedankenlos hinnehmen, was man uns seit Jahrhunderten lehrt. Und was das Neue Testament angeht ...«, er flüsterte Pierre ins Ohr, »... da sieh genau hin! Es enthält Dinge – ich weiß nicht warum sie überhaupt da drin stehen, vielleicht hat man nur vergessen, sie zu entfernen –, die uns einen Funken von der Wahrheit erahnen lassen.« Würdevoll hob er seinen Finger. »Aber nur, wenn man diese verstreuten Hinweise zu deuten versteht. Lies ab heute jeden Satz der Evangelien mit der Vorstellung ... daß sich die Menschheit tatsächlich in der Hölle befindet ... und du wirst sehen, daß sich dir plötzlich ein Bild erschließt, welches du noch nie zuvor gesehen hast, obwohl du schon so oft in der Schrift gelesen hast. Du hast sie einfach ... nicht richtig verstanden ... vielfach als unverständlich oder seltsam abgetan und sie, wie all die anderen Menschen, einfach abgelesen, weil es dein Beruf ist. Aber ab heute werden dir die Augen übergehen ... das verspreche ich dir!«
Sie schwiegen, und Marie atmete schwer vor sich hin. Pierre sah sie sich genau an. Aber sie lebte! Nur weil sich ihr Mundwerkschon seit geraumer Zeit nicht mehr bewegt hatte, machte er sich Sorgen um sie.
»Nimm zum Beispiel die Stelle, an der der Teufel Jesus in Versuchung führen will.«
Severin sprudelte wie eine Quelle. Er mußte schon lange darauf gewartet haben, diese tosende Flut seiner Gedanken, die in seinem Kopf wütete, endlich durch seinen Mund abfließen zu lassen.
»Diese Stelle im Neuen Testament ist für unsere Annahme, wir säßen bereits in der Hölle, besonders interessant, weil hier die beiden Gewalten direkt aufeinandertreffen, um die sich unsere ganze Existenz dreht. Der höchste Engel aus den sieben Himmeln – von Gott geschickt, um den Menschen einen Weg zurück in ihre Heimat zu zeigen – trifft auf den Herrscher der Erde, der alles Materielle, alles Stoffliche, alles Nichtgeistige in seinem Reich befehligt. Sein einziges Ziel ist es, die Engel, die ihm bei seinem Aufbegehren gegen den Allmächtigen gefolgt, und die jetzt ohne Erinnerung an ihre himmlische Heimat in Menschenkörpern eingeschlossen waren, für immer auf dieser Erde zu halten. Und Jesus war gekommen, im Auftrag des Allmächtigen, der Mitleid hatte, um ihnen den
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