Seelenbrand (German Edition)
wieder um die nächste Ecke verschwunden.
Je höher sie kamen, desto deutlicher war der Luftzug zu spüren, aber diese elendige Treppe nahm einfach kein Ende.
»Da oben ist Licht!« rief sie schließlich und blieb stehen.
»Laß mal sehen!« Die Wendeln der Treppe hatten aufgehört, und die Kurven waren endlich in eine gerade Aufwärtsrichtung übergegangen. Er drängte sich mit seiner Last an ihr vorbei. »Ab jetzt gehe ich vor! Und leiiise bitte! Weiß der Himmel, wer uns da oben erwartet!«
Sie nickte gehorsam und hielt sich mit jedem Kommentar zurück.
Stufe um Stufe kamen sie der Öffnung näher. Die letzten Schritte ... Keuchend blieben sie schließlich stehen. Er stellte die Dublonensäcke ab und reckte vorsichtig seinen Kopf ins Freie.
»Das gibt’s doch nicht!« Schnell zog er ihn wieder zurück und wandte sich an Marie. »Du wirst es nicht glauben, wo wir sind!«
»Na, sag schon!«
Er hatte sie absichtlich neugierig gemacht. Sollte sie doch einbißchen leiden für ihre Beleidigung, daß er nicht wüßte, wie es in der freien Wildbahn zuginge. »Sieh doch selbst nach!«
Ruppig drängelte sie sich an ihm vorbei und steckte ihren Kopf hinaus. »Ich werd’ verrückt!« Sie kam die Stufen wieder zu ihm hinunter. »Das abgebrannte Haus des Totengräbers!«
»Wenn du genau hinsiehst ... wir sind in seiner ehemaligen Speisekammer!«
»Da, wo er den Teufel gesehen haben will?«
»Ja, genau dort!« Er schob sich an ihr vorbei nach oben. »Das erklärt doch so einiges. Zum Beispiel ... wie der Teufel in sein Haus gekommen ist.«
»Es war gar nicht der Teufel!« flüsterte Marie. »Es war dieses Phantom! Vielleicht sogar der Mann, den ich vorhin da unten gesehen habe?«
Pierre äugte vorsichtig aus der Öffnung hinaus. Draußen dämmerte es bereits. »Niemand zu sehen! Unser Totengräber sitzt sicher schon beim alten Severin und seinen Ziegen. Sieht so aus, als ob er für heute Schluß gemacht hätte.«
Pierre kam zurückgeschlichen und griff sich die Goldsäcke. »Das erleichtert die Sache ein wenig! Aber ...«, er stellte sie sofort wieder ab, »... wo sollen wir mit den Dingern hin? Bis zum Pfarrhaus ist es noch ein Stück die Straße rauf. Und hierlassen können wir die Säcke ja schließlich auch nicht mehr!« Er wischte sich die Stirn ab. »Da steckt schon viel zu viel Schweiß drin!«
»Hm? ... Dann bringen wir sie doch einfach zu mir herüber! Mein Haus ist schräg gegenüber. Bei der Gelegenheit kann ich dir ja dann auch endlich mal mein Atelier zeigen.«
»Gute Idee!« Pierre wurde ganz heiß. Oh, oh! Wenn sie wüßte ...
Sie warf die Tür von innen zu und drehte den Schlüssel zweimal herum. »Dies hier ist meine Küche!« Sie ging voran und bog um die Ecke. Am Ende des kleinen Flurs lag das geräumige Atelier, in dessen Mitte die Staffelei mit seinem Porträt stand. »Am besten stellen wir die Säcke hier herein.« Sie öffnete einen kleinen Schrank, in dem allerlei Zeug lag, und Pierre wuchtete das Gold mit einem letzten Ächzer hinein.
»Jetzt bist du eine richtig gute Partie!« Schnaufend ließ er sich auf dem nächsten Stuhl nieder. »Golddublonen im Küchenschrank!«
»Ach ... Geld ...« Sie sah traurig aus dem Fenster. »Tante Pauline hat immer für mich gesorgt. Als sie mit mir nach Rennes gekommen ist, hatte sie genug, um sich die Pension zu kaufen und mir das Studium zu finanzieren. Nach der Kunstschule stand dann dieses Haus zum Verkauf, und sie hat es für mich herrichten lassen.«
»Sie hat wirklich viel für dich getan, nicht?« Pierre gähnte und rieb sich die Augen.
»Sie war wie eine Mutter für mich ... nachdem meine Eltern damals im Feuer umgekommen sind.« Sie umfaßte das Medaillon, das sie um den Hals trug. »Und das ist alles, was mir von ihnen geblieben ist. Da hilft mir kein Geld der Welt ...« Eine dicke Träne kullerte über ihre Wange.
Er erhob sich und stellte sich hinter sie, während sie beide aus dem Fenster in die Dämmerung hinaussahen.
»Kein Photo? Gar nichts?« Zärtlich wischte er ihr mit dem Finger die Träne aus ihrem Gesicht.
»Nein!« schluchzte sie. »Das Feuer soll nichts übriggelassen haben.«
»Gibt es denn nicht einmal ein Grab ... in das sie die Asche deiner Eltern gelegt haben?«
»Nein! Tante Pauline hat mir immer wieder gesagt, daß absolut nichts übriggeblieben wäre ... rein gar nichts.«
»Ich finde das schon seltsam ...« Vorsichtig strich er ihr über die Haare und wischte die Spinnweben ab. »In den vielen Jahren, in
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