Seelenbrand (German Edition)
blätterte hastig in seinem kleinen Büchlein, »Sie würden morgen vor Ihre Pfarrkinder treten und müßten folgenden Text verlesen.« Er sah kurz auf, ob Pierre irgendwelche Anstalten machte, die entspannte Situation zu mißbrauchen. Die Waffe hielt er immer noch in der Hand, als er schließlich zu lesen begann.
»›Drei Frauen wandelten stets mit dem Herrn: seine Mutter, seine Schwester und ... Magdalena, die als seine Gefährtin bezeichnet wird. Denn sowohl seine Mutter, als auch seine Schwester ... als auch seine Gefährtin waren eine Maria.‹« Er lugte kurz hoch, ob Gefahr bestand, vertiefte sich dann aber wieder und las weiter. »›Sie ist die Mutter der Engel und ... die Gefährtin Christi. Als solche heißt sie Maria Magdalena. Der Herr liebte Maria mehr als die übrigen Jünger ... und küßte sie auf den Mund. Die übrigen Jünger aber fühlten sich zurückgesetzt und murrten. Sie sprachen zu ihm: Warum liebst du sie mehr als uns alle?‹ Und so weiter, und so weiter.«
Er blätterte noch ein wenig und sah Pierre an. »Na? Was würde Ihre Herde wohl dazu sagen, wenn Sie einen solchen Text von der Kanzel verlesen hätten?«
Weil Pierre nicht sofort antwortete, fuhr von Rittenberg unbeirrt fort. »Es wäre der Anfang vom Ende!« Er klappte sein Notizbüchlein zu. »Nicht mehr ... und nicht weniger! Zuerst ein kleiner Funke ... und in wenigen Wochen hätten wir einen Flächenbrand!«
»Ist diese Quelle denn so glaubwürdig?«
»Die Verwaltung hielt sie jedenfalls für so gefährlich, daß man es in unserer Dienststelle seinerzeit für das beste hielt, alle anderen Untersuchungen sofort einzustellen und ausschließlich nach dem Verbleib dieses Evangeliums zu fahnden.«
»Ein weiteres apokryphes Evangelium?« Pierre dachte momentan mit keinem Funken an eine Flucht.
»Unsere Dienststelle bekam seinerzeit unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Die Anweisungen dazu mußten von ziemlich weit oben gekommen sein. Und, nicht ohne Stolz darf ich Ihnen verkünden, daß wir alle Abschriften dieses Philippevangeliums im Sinne unseres Auftrags eingezogen haben ... bevor irgendein Schmutzfink in die Versuchung kommen konnte ... damit Unruhe zu stiften.«
Pierre blieb skeptisch. »Und warum erzählen Sie mir das alles?«
»Wer würde Ihnen schon glauben?« Ungerührt zuckte von Rittenberg mit den Schultern. »Es gibt mich doch eigentlich gar nicht.«
»Ist es nicht riskant, Mitwisser zu haben?« fragte Pierre vorsichtig.
Von Rittenberg streichelte seine Mauser. »Wenn Sie sich nicht in meine Arbeit eingemischt hätten, dann stünden wir jetzt nicht vor diesem schwierigen Problem.« Er sah hoch, und sein fahles Gesicht war wieder ohne einen menschlichen Zug. »Sie werden diesen Ort erst wieder verlassen, wenn meine Arbeit hier getan ist.«
Um diesen Irren von seiner Pistole abzulenken, versuchte Pierre die Konversation in Gang zu halten. »Und Ihre Arbeit hier besteht also darin, die Überreste ... von Maria Magdalena aus dieser Kammer mitzunehmen?«
Von Rittenberg nickte. »Ja! Das ist aber nur ein Teil meiner Aufgabe!«
Als er unfreiwillig herausgefunden hatte, daß mit der Kreuzigung damals etwas nicht stimmen konnte, und das Neue Testament da einiges verschwieg ... da war ihm noch nicht klar, daß diese Entdeckung nur ein Hauch von dem war, was hinter den Kulissen seines Glaubens wirklich brodelte. Jetzt war Jesus schon verheiratet ... und hatte Kinder. Ja ... was sollte man dazu noch sagen?
»Glauben Sie ...«, Pierre sah sich in der Kammer um, »... daß diese Gebeine tatsächlich von Maria Magdalena stammen?«
Von Rittenberg seufzte. »Es ist nicht wichtig, was ich glaube, sondern das, was die Narren da oben glauben.« Er betrachtete seine Pistole. »Stellen Sie sich vor, alle Gläubigen unserer Kirche zusammengenommen sind wie ... eine Herde auf der Weide.« Er überlegte. »Sagen wir Rindviecher! Und es ist unsere Aufgabe – ich schließe Sie als Pfarrer da durchaus ein – diese Herde in Ruhe grasen zu lassen und dafür zu sorgen, daß keine Unruhe aufkommt. Wir erhalten die Ordnung dadurch, daß wir von dieser Herde alles fernhalten, was sie nervös oder orientierungslos machen könnte.« Er zielte mit seiner Waffe auf eine entfernte Laterne. »Was meinen Sie, was passiert, wenn diese Rindviecher in Bewegung geraten? Ein Tier steckt das andere mit seiner Nervosität und seiner Panik an ... und schon donnert die ganze Herde los. Niemand wird sie stoppen können. Chaos und
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